Die Pandemie und ihr Management führen zu sprachlichen Übergriffen sonderzahl. Die neueste Verirrung ist der verkürzte Genesenenstatus. Wollten wir das ohne Vokale schreiben, wäre es der vrkrzt Gnsnnstts. Unschön auch so. Weiterlesen
Aus dem Leben eines Stadthundes
Ob meine Eltern wirklich wussten, was sie taten, als sie mich zeugten, wie soll ich das wissen? Sie haben sich geliebt ohne jede Idee von Schuldigkeit. Sie wussten, was sie taten. So kommen in mir zwei Welten zusammen: die westerwäldische, in der die Gefährten meines Papas ihren politischen Willen in dem Wort „daswommerjaauch“ zusammenfassen, was mich immer auf die Frage bringt, was vor dem „auch“ so alles stattgefunden haben kann, oder auch nicht. Und mütterlicherseits schießen die feuchten Jagdgründe Suffolks und das Dach der Welt dazu, dort, wo das Sein sich als lang gedehntes Ooommm artikuliert, als Abschied vom irdischen Wollen, als Einfügung des Seins in die Schöpfung, als großes Einverstandensein. Da haben Sies: Ich bin eine Promenadenmischung, wie sie im Buche steht. Hüten und Jagen liegen mir durch Vater und Mutter gleichermaßen. So begebe ich mich auf meine Wege durch die laute Stadt, durch ihre Düfte, durch ihre Unaufgeräumtheit. Weiterlesen
In Erinnerung an Klaus Wagenbach
Im März 1987 gingen wir auf Sendung. Vorher probten wir in einem dieser verwaisten Orte, von denen es im ummauerten Westberlin so viele gab, dass ich mich nicht einmal mehr an die Adresse erinnere. Jedenfalls probten wir alles, was zu erproben war, auch unsere Stimmen und wie wir mit ihnen arbeiten können. Anlass dazu gaben uns die Audionauten HP Kuhn und Johannes Schmölling (er hat den Jingle komponiert), die die Tonkunst in die Straßen brachten und aus ihnen zurück ins Radio holten. Was waren das für Zeiten!
Heute ist der Tod von Klaus Wagenbach trauriger Anlass, an die erste Nachtflugsendung zu erinnern. Damals sprachen Egbert Deekeling und ich mit Klaus Wagenbach über den damaligen Literaturstreit, was so ganz nebenbei vor Augen und Ohren führt, dass das Streiten zur Literatur gehört wie die Luft zum Atmen. Wird sie zu dick oder ist sie zu dünn, kommt nur Gequirltes zustande.
Hier der link zur Sendung. Viel Vergnügen!
Impfmüde
Das Wort ist so jung, dass viele einschlägige Verzeichnisse es noch gar nicht kennen. Bei Google Ngram steigt die Trefferquote erst nach den Nuller-Jahren steil an, offenbar gab es nach der Schweinegrippe-Saison 2009/10 einen ersten kleinen Impfmüdigkeitspeak mitohne Pieks (sorry). Weiterlesen
Eine triviale Gemeinsamkeit
Der Umweltschutz, die Meinungsfreiheit, Integration, das Personalgespräch, das Frühstücksfernsehen, die Probezeit, das Barrierefreiheitsrecht, die freie Gesellschaft, Nachhaltigkeit, Solidarität, Fairness, Social Media, Engagement, Rassismus, Sexismus, der Lehrenweg, die Spiegelstraße, Vorstellungsgespräche, MS, Respekt, die Vogelsbergstraße, das Homeoffice, Treue, Zusammenarbeit, Weiterlesen
Rückkehr zur Normalität?
Sie wird immer häufiger beschworen, als sei sie ein Ziel, nach dem wir Sehnsucht hätten. Für die Rückkehr zur Normalität gibt es keine Fahrkarten, keine Patentrezepte, keinen Wegweiser. Wer behauptet, den Weg oder das Ziel zu kennen, ist ein Scharlatan. Wer sie verspricht, verspricht sich. Seit wann gibt es Zeitreisen, und dann auch noch zurück? Was schließlich macht einen hinter uns liegenden Zustand zu einem Sehnsuchtsziel? Weiterlesen
Der Nacktputzer
Gestern Mittag bei der Runde mit dem Hund durch die Stadtwildnis hatten wir ein seltsames Erlebnis.
Wir traten am Ende eines schmalen Pfades durch die lieblichsten Kleingärten auf eine Lichtung, wir nennen sie “unsere Kehre”, als wir dort auf einen älteren etwas korpulenten puterroten Mann stießen, der gerade dabei war, sein letztes Kleidungsstück, einen blauen Slip, abzulegen. Auf meine erstaunte Frage, was das solle, erhielt ich keine Antwort. Es schien ihm Beschäftigung genug, den Slip abzulegen, ohne darüber das Gleichgewicht zu verlieren. Zwanzig Meter weiter trafen wir einen uns bekannten Kleingärtner und fragten ihn, ob er wisse, was da – quasi vor seiner Laubentüre – passiere. Wir erhielten eine sehr lakonische Antwort, die eher nach einem weiteren Rätsel klang. Das sei der Nacktputzer. Der Kleingärtner, übrigens auch Familienvater, schien sich in dieses Schicksal gefügt zu haben, und plötzlich erinnerte ich mich daran, dass vor einigen Wochen seine Kinder mir aufgeregt entgegen gelaufen waren und mich gefragt hatten, ob ich den Nacktputzer gesehen hätte. Ich hatte das für ein Spiel gehalten und es sogleich wieder vergessen. Nein, ich hatte keinen Nacktputzer gesehen. Als ich den Gärtner danach fragte, was der Nacktputzer denn mache, erhielt ich die zweite lakonische Antwort: er putze Steine. Der Laubenpiper schien sich in das Schicksal dieser ungesuchten Nachbarschaft gefügt zu haben. Was du nicht ändern kannst, das nimm doch einfach hin. Nun also den Nacktputzer, für die Steine! Von denen aber gibt es im Gelände, durch das einst ein Gleis mit Schotterbett geführt hatte, so viele, dass wir endlich verstanden, dass da einer seine Lebensaufgabe gefunden haben muss.
Mögen die Steine es ihm danken!
Verschärfen
Aus Gründen, die nicht kulinarischer Natur sind, feiert dieses Verb etwas zu dauerhaft Hochkonjunktur. Hier folgen einige Beispiele aus der politischen Prosa, was sich verschärft oder was verschärft werden muss. Aus der Ferne erklingt in dem Wort das Handwerk des Scharfrichters, der seine Klingen einsatzbereit halten und entsprechend pflegen muss. Wer etwas verschärfen will, steht – wie unfreiwillig auch immer – in dieser Tradition.
Verschärft werden muss Weiterlesen
Richtig und wichtig
Kaum etwas finde ich so grauenvoll und nichtssagend wie diese Formulierung, die seit geraumer Zeit Bedeutung beansprucht, aber über die Autosuggestion nicht hinauskommt. Aber wer kann sich schon selbst hypnotisieren? Was in den letzten Monaten alles als “wichtig und richtig” galt:
Streiten
Hochschulen in die Politik einbringen
Selbsttests
Apotheker Weiterlesen
Virusvariationsgebiet
Erst hieß es “Mutationsgebiet”. Damit schien klar, dass dort etwas passiert, was besser nicht passierte. Wenn es sich um ein abgrenzbares Gebiet handelte, dann, so die in dem Wort geborgene Hoffnung, ließe sich eingrenzen, was von dort seinen Ausgang nehmen könnte. Das war schon Blödsinn in der Sekunde, in welcher das Mutationsgebiet in die deutsche Sprache fand. Es geschah erst vor wenigen Wochen, weshalb Google Ngram die Verwendungsgeschichte des Wortes noch nicht aufbereitet hat.
Es liegt nahe, sich dem zusammengesetzten Wort von seinem Hinterteil aus zu nähern (Lob des Hinterteils!): dem Gebiet. Das Wort ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie die deutsche Sprache aus ihrem Innersten heraus etwas Neues hervorbringt, so wie zum Beispiel ein Substantiv aus einem Verb entsteht und eigene Gestalt annimmt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Gebieten und den Gebieten, in denen das Gebieten Geltung beansprucht. Hat eine Person die Macht zu gebieten, hat diese Macht Folgen. Bis sich diese zu kartierbaren Grenzen verdichten, vergeht Zeit. Es kommt zu Proben, wie weit miteinander konkurrierende Gebote und daraus abgeleitete Gebiete reichen. Manche Nachkommen der Vertriebenen schreiben verloren gegangene Güter im Osten noch heute in ihre Testamente. Weiterlesen
Das Menschenmögliche
Angesprochen auf die Vorhersage von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der frühen Phase der Pandemie, dass man sich später einiges zu verzeihen haben werde, und gefragt, ob sie bei der Impfstoffbestellung etwas falsch gemacht habe und sich bei den Deutschen entschuldigen müsse, sagte Merkel: „Jeden Tag macht niemand hundert Prozent alles richtig.“ Dann aber sagte sie, bei der Impfstoffbestellung habe man das „Menschenmögliche“ getan. Eckart Lohse, FAZ vom 22. Januar 2021 Seite 2.
Ein seltsames Wort. Oft wird es um ein „alles“ ergänzt, um nur ja den Verdacht zu ersticken, dass möglicherweise etwas durchaus Menschen Mögliches unterlassen worden sein könnte. In einem solchen Falle wäre das Menschenmögliche eine Schutzbehauptung, die Verstand und Tatkraft bloß für den Versuch einsetzte, etwas zu entschuldigen. So aber fiele etwas in dem Wort Enthaltenes schmerzhaft hinter seinen Bedeutungsreichtum zurück. Wäre das der Fall, könnte es auch mit der Bemerkung getan sein „Sorry, wir haben das versemmelt.“ Weiterlesen
Achtsam
Nun leben wir schon über drei Jahre zusammen. Lola beobachtet mich, ich sie. Am Morgen sind es die fast ewig gleichen Routinen. Erst bereite ich mein Müsli zu, die Cafetière beginnt auf dem Gasherd zu fauchen. Lolas Fressnapf ist schon gefüllt (zur Zeit mit Reis, Apfelschalen und einem Nassfutter aus der Dose). Ich stelle ihn auf den Fressplatz, gieße den Espresso ein und nun, als ich das Müsli von der Arbeitsplatte auf den Küchentisch stelle, kommt der tägliche Augenblick, der mir das Herz weitet, weil der Hund so quer zwischen Tisch und Fressnapf steht, dass ich, ohne sie zu schieben, mich nicht hinsetzen könnte. Sie aber, während sie weiter wölfisch ihr Futter verschlingt, weicht mit dem Rumpf so zur Seite, dass ich auf meinen Platz gelange, ohne sie schieben zu müssen. Es bedarf keines Blickes, keines Wortes, keiner Geste, um sie zum Vollzug dieser Routine zu ermahnen, nein, sie hat es zu einer achtsamen Choreographie gebracht, um das Allerheiligste für den Hund, das Fressen, nicht unterbrechen zu müssen, mir aber zugleich Platz machen zu können.
Hoffnung auf den Autopilot
Sitzen eine Ethikerin, ein Ministerpräsident, ein Epidemiologe, ein Virologe und die Pandemiebeauftragte eines Landkreises zusammen, dann befinden sie sich gewiss in einer Talkshow, an diesem Abend bei Maybrit Illner. Weiterlesen
Wilde Jahre, kühne Träume
Seit heute (12. Oktober 2020) ist mein neues Buch “Wilde Jahre, kühne Träume” im Buchhandel erhältlich. In ihm untersuche ich Verbindungen zwischen Substantiven und Adjektiven wie zum Beispiel wilde Jahre, bewaffnete Männer, junge Frauen, schlechtes Gewissen.
Am 16. Oktober sendete das zweite Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks in der Sendung “Sozusagen!” ein erstes Gespräch über das Buch, das Hendrik Heinze mit mir geführt hat.
Nun gibt es Kritiken im Programm der Deutschen Welle und im Greenpeace-Magazin. Am kommenden Montagvormittag gibt es ein Interview im Radioprogramm des WDR 5.
Wörter aus vier Jahrzehnten
Im März 2019 kamen die ersten beiden Bände einer kleinen Buchreihe heraus, die ich für den Dudenverlag schrieb. Es geht um Wörter aus den 50er und 60er Jahren. Im Herbst 2019 folgten die Bände zu den 70er und 80er Jahren. Ein seltsames Schreiberlebnis, in die eigene Kindheit, Adoleszenz und das frühe Erwachsensein einzutauchen und der Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit nachzugehen. Zu jedem Wort gibt es einen Miniessay von circa 1000 Zeichen. Die Bücher sind illustriert mit Fotos aus dem jeweiligen Jahrzehnt.
Kanalarbeiter
Ich gehöre nicht zu den weinerlichen Menschen. Heute war der Termin für die zahnärztliche Ausschachtung der Wurzelkanäle, die vor fünf Jahren, wie ich damals geglaubt hatte, auf Dauer zahnärztlich versorgt worden waren. Gloßel Illtum! Im Unterschied zum damaligen Zahnarzt ist der jetzige auf sympathische Weise maulfaul, er sagt, außer den Anweisungen an die Helferin, fast nichts. Das war dummerweise so ansteckend, dass ich kurz vor Ende des Martyriums es nicht wagte, die kurzzeitige Irritation eines Nervs, der an meinem Ohr vorbeiläuft, zu erwähnen. Der dento-akkustische Höhepunkt der zweistündigen Sitzung war erreicht, als er begann, mit einer Druckpumpe das Reinigungsfluidum in die freigefrästen Kanäle zu spritzen. In der Sekunde fühlte ich mich an das Schlagzeug von N.U. Unruh (Einstürzende Neubauten) im Schacht der Autobahnbrücke von Dreilinden erinnert. Asynchron dazu tobten die Bohrhämmer im Versorgungsschacht des 11Geschossers am Nollendorfplatz. Sie hatten, ohne Absprache, den Einsatz hinbekommen, als hätte ein böser Geist sie gegen mich dirigiert. Anfangs hatte ich vorgehabt, das elfte Geschoss durch den Treppenschacht anzusteuern, um Begegnungen im Flaschenhals-Aufzug (Transportmaximum: drei Veuve-Nebukadnezars zusammen mit meinem Astralleib) auszuweichen. Davon ließ ich ab und schnallte die im Februar gelieferte FFP3-Maske an. Christian Y. Schmidts Warnungen aus Peking hatten mich früh genug alarmiert. Bis zum nächsten Montag sind Mozzarella-Kügelchen und zermuste Avocados mein Grundnahrungsmittel.
Das Leben mit Hund (ctd)
Lola ist in der heißen Phase ihrer dritten Läufigkeit. Hatte ich früher gelegentlich bemerkt, Hunde seien Katasterämter auf Streife, konnte ich gestern im Hundesauslauf eine weitere Beobachtung machen, wie das Markieren eine spielerische Choreographie inszeniert. Wir trafen Lolas Freundin Wilma, eine Großpudeldame von erheblichem Temperament, im Vergleich zu Lola ein Leichtgewicht. Die beiden hatten sich, von einer Episode auf der Potsdamer Straße abgesehen, seit längerem nicht gesehen. Früher konnte es vorkommen, dass Begegnungen nach der Choreographie von Italowestern abliefen, als führte Sergio Leone Regie. Beide legen sich in äußerster Spannung nieder, warten ab, wer zuerst zuckt und dann stürmen sie aufeinander los. Gestern saßen wir auf einer Bank des Hundeauslaufs, als Lola mit einem leichten Hopser, ausgelöst durch die Vorderläufe, in die Hocke ging und eine klitzekleine Portion Urins abgab. Ihrer Vorlage folgte Wilma, indem sie exakt auf die gleiche Stelle und in der gleichen Haltung etwas darauf setzte, und nun wiederum überstrahlte Frollein Lola die Spur, was daraufhin Wilma zur Wiederholung nötigte, und das Spiel des Markierens und Übertünchens endete erst, als beide jeweils drei Mal geliefert hatten. Wer dabei Regie führte, ist egal. Die beiden Damen inszenierten ein Ritual. Hier ein Bild von Lola aus dem letzten Frühling, als ihr Comte Griffon nachstellte.