Virusvariationsgebiet

V

Erst hieß es „Mutationsgebiet“. Damit schien klar, dass dort etwas passiert, was besser nicht passierte. Wenn es sich um ein abgrenzbares Gebiet handelte, dann, so die in dem Wort geborgene Hoffnung, ließe sich eingrenzen, was von dort seinen Ausgang nehmen könnte. Das war schon Blödsinn in der Sekunde, in welcher das Mutationsgebiet in die deutsche Sprache fand. Es geschah erst vor wenigen Wochen, weshalb Google Ngram die Verwendungsgeschichte des Wortes noch nicht aufbereitet hat.

Es liegt nahe, sich dem zusammengesetzten Wort von seinem Hinterteil aus zu nähern (Lob des Hinterteils!): dem Gebiet. Das Wort ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie die deutsche Sprache aus ihrem Innersten heraus etwas Neues hervorbringt, so wie zum Beispiel ein Substantiv aus einem Verb entsteht und eigene Gestalt annimmt. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Gebieten und den Gebieten, in denen das Gebieten Geltung beansprucht. Hat eine Person die Macht zu gebieten, hat diese Macht Folgen. Bis sich diese zu kartierbaren Grenzen verdichten, vergeht Zeit. Es kommt zu Proben, wie weit miteinander konkurrierende Gebote und daraus abgeleitete Gebiete reichen. Manche Nachkommen der Vertriebenen schreiben verloren gegangene Güter im Osten noch heute in ihre Testamente.

Früh zeigte sich, welches Unheil über die Welt kommt, wenn die Menschen nicht einfach in ihren Zimmern bleiben. Geh aus, mein Herz! Oder besser nicht? Nicht am Gründonnerstag und schon gar nicht am Karsamstag! Die Geschichte unseres Wortes belegt, wie variabel es im Laufe seiner Geschichte wird. Schon sehr lange gilt es nicht mehr nur territorial, sondern auch sachlich, fachlich und wissenschaftlich. XYZ hat sich auf dem Gebiet der ZYX verdient gemacht und so weiter.

Nun versuchen wir zu ergründen, wie es zu dem Virusmutationsgebiet gekommen ist. Dass Viren sich wandeln, gehört zu ihrer Natur. Nach uns zugänglichen Quellen geschieht das im Fall von SARS-CoV-2 besonders erfolgreich in immungeschwächten Leibern, etwa bei Krebserkrankten, die gerade eine Chemo- oder Strahlentherapie hinter sich gebracht haben, oder bei AIDS-Patienten, die die Standardmedikamente nicht erhalten, nicht nehmen oder nicht vertragen. In solchen geschwächten Leibern wütet das Virus ungebremst und erprobt durch klitzekleine Veränderungen in seinem Erbgut, wie es uns noch erfolgreicher angreifen und vernichten kann.

Das Virusmutationsgebiet können wir daher als seuchenrechtliche Realfiktion verstehen, die es den Behörden erlaubt, Einreise- und Ausreiseverbote zu verhängen. So plausibel das im einzelnen sein mag, so untauglich ist es, weil diese Verbote umgangen werden können. Jeder kleine Grenzverkehr belegt das.

Wir müssen uns daher von der Realfiktion des Virusvariationsgebiets verabschieden. Es ist nicht kartierbar, hat keine Grenzen und folgt nur Befehlen, die sich dem Ordnungsrecht entziehen. Virusmutationsgebiete müssen wir endlich in ihrer Leibhaftigkeit begreifen. Sie bewegen sich auf zwei Beinen um die ganze Welt.