Illusionen als Kapital

I

„Ein Gespenst geht um in Europa.“

So klang einst der erste Satz eines Manifests, das es noch in sich hatte. Nun sitzt vor der Bundespressekonferenz eine Dame, die eine Bewegung gestrickt hat, die – bis auf Weiteres – unter ihrem Namen die politische Arena betritt.

Die politischen Bewegungen, denen sie sich einst zurechnete, arbeiteten mit den Namen ihrer Urahnen: Marx und Lenin. Es gab den Marxismus, den Leninismus, auch den Marxismus-Leninismus. Bloß der Georgier Stalin ist ausgemustert. Der Familienname der Frontfrau taugt nicht zum Ismus, mit dem man mit muss. „Unmündig nennt man uns und Knechte, ertragt die Schmach nun länger nicht!“ So viel Echo aus linkem Liedgut ist zumutbar.

Der erste Satz ihres Manifests klingt nach Gram. „Unser Land ist in keiner guten Verfassung.“ So redet ein Sanierer, der von der Hauptversammlung der Eigentümer dazu bestellt ist aufzuräumen. Schon der zweite Satz aber gibt Anlass zu Zweifeln: „Seit Jahren wird an den Wünschen der Mehrheit vorbei regiert.“ Sind Wünsche ein Verkehrshindernis? Ein Umgehungstatbestand? Oder bloß ein TV-Format mit Irmgard Düren?

„Statt Leistung zu belohnen, wurde von den Fleißigen zu den oberen Zehntausend umverteilt.“ Auch dieser Satz weckt Verdacht. Kann es sein, dass das „Manifest“ bloß ein Potpourri (zu deutsch: verdorbener Topf) wieder aufgewärmter Parteiparolen aus nicht offen gelegten Quellen ist? Wer hätte das gedacht: ausgerechnet bei der CSU wurde Wagenknechts Bündnis fündig: „Leistung muss sich lohnen!“

Das Aufgewärmte erweist sich als Prosa-Mischmasch, dessen einziger Zweck darin besteht, es allen recht zu machen und so viel wie möglich dafür bei der Konkurrenz zu klauen. Also nicht „wünsch dir was!“ sondern „schnorr dir was!“. In der jüngeren deutschen Literaturgeschichte gab es von einem gewissen Kaspar Hauser in der Weltbühne aus dem Jahr 1930 das Urmuster für solche Allparteien-Prosa: „Ein älterer aber leicht besoffener Herr: „Hips … ick bin sossusahrn ein Opfer von unse Parteisserrissenheit. Deutschland kann nich untajehn; solange es einich is, wird es nie bebesiecht!“

„Statt Freiheit und Meinungsvielfalt zu achten, macht sich ein autoritärer Politikstil breit, der den Bürgern vorschreiben will, wie sie zu leben, zu heizen, zu denken und zu sprechen haben.“ Die Aufzählung folgt kabarettistischer Logik: finde das nicht Passende (leben, heizen, denken, sprechen), bringe es in eine absurde Reihe und das Publikum merkt nicht mal, dass es von dir entführt wird. Ein Geiseldrama wird zur Schmierenkomödie.

„Ohne einen politischen Neuanfang stehen unsere Industrie und unser Mittelstand auf dem Spiel.“ Das klingt wie die Prosa der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und der basso continuo von Sabine Christiansen auf ihren Kreuzfahrten durch die Karibik. Wagenknechts Mitkämpfenden aus der längst vergessenen WASG dürfen sich hier die Augen reiben. Sie werden den rhetorischen Schachzug nicht verstehen. Frau Wagenknecht begibt sich als Freibeuterin auf Kaperfahrt und montiert freihändig aus der im Markt wie Entenflott verfügbaren politischen Prosa Versatzstücke, bei denen es reicht, dass sie nur irgendwie vertraut klingen, um den politisch Heimatlosen von heute frisch Aufgewärmtes als Gourmet-Menü vorzusetzen.

„Viele Menschen haben das Vertrauen in den Staat verloren und fühlen sich durch keine der vorhandenen Parteien mehr vertreten. Sie haben zu Recht den Eindruck, nicht mehr in dem Land zu leben, das die Bundesrepublik einmal war.“ So montiert Wagenknecht die Nostalgie von aus dem Paradies Vertriebenen mit Sehnsucht nach Neuer Heimat ohne Dachschaden.

Der Rest ist Sülze.

„Wir stehen für eine Rückkehr der Vernunft in die Politik.“ In der jüngeren politischen Musikgeschichte ertönt aus der Kulisse dieses Prosanebels Marlene Dietrich:
„Sag mir wo die Blumen sind
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Blumen sind
was ist geschehen?
Sag mir wo die Blumen sind
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?“

Für solche Prosa gibt es im politischen Markt Deutschlands eine riesige Marktlücke. Das ist der Zynismus, der aus Wagenknechts Manifest spricht: Illusionen gelten wieder als politisches Kapital.