© Gerard van Smirren

Aus dem Leben eines Stadthundes

Ob meine Eltern wirklich wussten, was sie taten, als sie mich zeugten, wie soll ich das wissen? Sie haben sich geliebt ohne jede Idee von Schuldigkeit. Sie wussten, was sie taten. So kommen in mir zwei Welten zusammen: die westerwäldische, in der die Gefährten meines Papas ihren politischen Willen in dem Wort „daswommerjaauch“ zusammenfassen, was mich immer auf die Frage bringt, was vor dem „auch“ so alles stattgefunden haben kann, oder auch nicht. Und mütterlicherseits schießen die feuchten Jagdgründe Suffolks und das Dach der Welt dazu, dort, wo das Sein sich als lang gedehntes Ooommm artikuliert, als Abschied vom irdischen Wollen, als Einfügung des Seins in die Schöpfung, als großes Einverstandensein. Da haben Sies: Ich bin eine Promenadenmischung, wie sie im Buche steht. Hüten und Jagen liegen mir durch Vater und Mutter gleichermaßen. So begebe ich mich auf meine Wege durch die laute Stadt, durch ihre Düfte, durch ihre Unaufgeräumtheit. Weiterlesen

Spiel mit Wörtern

Im frühen Jahr 2018 erreichte mich aus heiterstem Himmel eine Anfrage des Dudenverlags. Ob ich mir vorstellen könnte, zu Wörtern aus vier Jahrzehnten vier Büchlein zu schreiben. Klar konnte ich mir das vorstellen. Es juckte mir quasi schon in den Fingern. Auf die Dauer ist das Schreiben von Talkshowkritiken nicht abendfüllend. Schnell einigten wir uns über einen schönen Vertragsrahmen, nachdem ich einige Textproben geschrieben hatte. Weiterlesen

Hoffnung auf den Autopilot

Sitzen eine Ethikerin, ein Ministerpräsident, ein Epidemiologe, ein Virologe und die Pandemiebeauftragte eines Landkreises zusammen, dann befinden sie sich gewiss in einer Talkshow, an diesem Abend bei Maybrit Illner. Weiterlesen

Wörter aus vier Jahrzehnten

Im März 2019 kamen die ersten beiden Bände einer kleinen Buchreihe heraus, die ich für den Dudenverlag schrieb. Es geht um Wörter aus den 50er und 60er Jahren. Im Herbst 2019 folgten die Bände zu den 70er und 80er Jahren. Ein seltsames Schreiberlebnis, in die eigene Kindheit, Adoleszenz und das frühe Erwachsensein einzutauchen und der Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit nachzugehen. Zu jedem Wort gibt es einen Miniessay von circa 1000 Zeichen. Die Bücher sind illustriert mit Fotos aus dem jeweiligen Jahrzehnt.

     

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Helga Paris

Ich nahm mir drei Tage hundefrei. Wenn ich Lola leise den Namen ihrer Hüterin sage, weiß sie, dass sie einen Ausflug zu ihrem Teilzeit-Rudel unternimmt. Sie springt dann vor Freude an mir hoch, weil sie einige Tage namenloser Abenteuer vor sich weiß. Weiterlesen

Ein Dilemma: warum Framing ein Etikettenschwindel ist

Zunächst eine Offenlegung. Sie führt zurück in den Spätsommer des Jahres 2013. Michael Stognienko von der Böll-Stiftung hatte mich zu einem Termin eingeladen, bei dem Elisabeth Wehling den versammelten Wahlkämpfern der Grünen, der Linken und der Sozialdemokraten ihre Methode vorstellte. Sie war im Begriff, ihr Beratungsangebot, entwickelt und erprobt in den USA, nun in Europa auszurollen. Der Bundestagswahlkampf war längst durchkonfektioniert. Und dann kommt diese Deutschamerikanerin und fragt die Wahlkämpfenden: “Was sind Eure Werte?” Das war ein Augenblick der Wahrheit, der keinem der Anwesenden gefallen konnte. Denn es kamen bestenfalls Abstraktionen. Die Frage schien so einfach, die Antworten aber bezeugten, wie unvorbereitet die Beteiligten an diesem Nachmittag aussahen. Weiterlesen

Eine Verschwörung

Über Günter Hack erfuhr ich heute Morgen von dieser Story. Um es zurückhaltend auszudrücken: sie ist atemberaubend. Wenn sich herausstellt, dass wahr ist, was Jeff Bezos, der Amazon-Gründer, hier ausführt, versuchen Spießgesellen des amerikanischen Präsidenten, ihn zu erpressen und damit Rache an der Washington Post zu nehmen. Dass Bezos sich selbst zum Kauf beglückwünscht, hat viele Gründe. Hier sind es gute. Hack denkt an William Gibson als einen Autor, der solchen Stoff zu einem Thriller verarbeiten könnte. In meinen Augen wäre es auch Hack, der das könnte. Welcher Verlag gäbe ihm den dafür nötigen sechsstelligen Vorschuss?

Der Wahnsinn geht weiter – eine Tragödie wird besichtigt

Der folgende Essay erschien kürzlich im Jahrbuch Fernsehen 2018. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber dokumentiere ich ihn hier in meinem Blog.

Prolog: Die Welt wartet nicht auf uns

Die ersten Bilder zeigen einen leeren Konferenzsaal. Die Namensschilder sind austauschbar, stehen für die vielleicht schon verloren gegangene Idee von Repräsentation. Wann werden sie ausgetauscht? Durch wen? Das Leitmotiv erklingt, eine Bearbeitung zweier Kompositionen von Johann Sebastian Bach1, ein maestoso triste in Moll, Kontrapunkt zur musikalischen Tradition eines Parteilieds, das noch Seit´an Seit´schreitet, aber nicht mehr zu wissen scheint, in welche Richtung die Reise gehen wird. Das Motiv durchzieht die Dokumentation wie eine Interpretationshilfe, trifft selbst eine melancholische Aussage zu dem Befund, zu dem die Dokumentation gelangt: der Wahnsinn geht weiter. Weiterlesen

Geschlecht: Aufruhr. 50 Jahre Stonewall

Das einzige Mittel, dem Entsetzen zu entgehen, besteht darin, sich dem Entsetzen zu überlassen. (Jean Genet)

Die folgende Projektskizze verstehe ich als Einladung zur Diskussion. In welcher individuellen und institutionellen Vernetzung ließe sich dieses Projekt im Sommer 2019 realisieren?

In der Nacht zum 28. Juni 1969 kam es in der Christopher Street, Ecke 7th Avenue vor der Bar Stonewall Inn im Greenwich Village New Yorks zu einem Zusammenstoß zwischen schwulen Aktivisten und Polizeibeamten. Am Tag zuvor war unter großer Beteiligung der gay community (die sich noch nicht als solche verstand) Judy Garland beerdigt worden. Zu ihrer Beerdigung hatten sich über 22.000 Menschen versammelt. Garlands Lied „Over The Rainbow“ wurde schon bald zur Hymne der schwulen Kultur, der Regenbogen zum Symbol einer Bewegung, die sich nach den Straßenschlachten zu einer Bürgerrechtsbewegung entwickelte. In den Tagen nach Judy Garlands Beerdigung formte sich die Schwulenbewegung zu einer neuen sozialen Bewegung. Weiterlesen

Die Wirklichkeit ist der Test

“Später erzählt K., wie ein Wiener Komiker, in New York ankommend, vor den Pressefotografen die Erde küsst. Das dürfe einen nicht stören, sagt K., es bedeute nur: “Küss die Erde!”

Am Sockel der Freiheitsstatue befand sich seit 1903 eine Bronzetafel mit einem Sonett von Emma Lazarus. Seine letzten Zeilen lauten:

„Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie
Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,

Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!“

In diesen Tagen helfen historische Präzedenzfälle, hier die Erfahrungen der deutsch-jüdischen Emigranten in den USA, besser zu verstehen, was tatsächlich geschieht. Mit Staunen, auch mit gemischten Gefühlen kommentieren es die internationalen Medien. Vor ihrer Reise nach Indien gab die Bundeskanzlerin dem Deutschlandfunk ein Interview:

“Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist – ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat: “Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt” –, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.”

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Merkur

Das lange Schweigen hat sein Ende. Manche Gründe gab es, gute, schlechte. Ein Ergebnis ist anfang März in der von Jo Lendle und Clemens Setz herausgegebenen neuen Ausgabe der akzente zu besichtigen. Darin schreibe ich über das Lebenswerk des japanischen Autors Shozo Numa, den Roman Yapou, menschliches Vieh.

Anlasslos zu schreiben erfordert übrigens auch einen Widerstand gegen Anlässe, zu denen meistens schon mehrfach alles von fast allen gesagt worden zu sein scheint.  Mir geht es eher um Interventionen, die unerwartet, aus einem schrägen Blickwinkel oder als Zwischenruf die eigenen Widerstände gegen das Schreiben durchlässig machen, einer begeisternden Lektüre folgen oder eigene Anlässe herbeiführen.

Seit einiger Zeit beobachte ich mich dabei, mir auf die Finger zu hauen, wenn ein elektrischer Schreibimpuls durchbricht, von dem nichts Gutes zu erwarten ist. Das gilt für unterbliebene Reaktionen auf die Zeitschrift Cicero, ein Magazin (einschließlich seines Ablegers im Netz), das sich dazu entschlossen hat, provokativ seicht im Trüben zu fischen, in wahlverwandtschaftlicher Nähe zu Titeln, die man nicht mal mehr nennen mag. Nur noch krawallgebürstet, in der Syntax verludert, im Denken einer Lagerlogik zugetan, die abstößt. Fast müsste man in Verteidigung ihres Namensgebers eine Titelschutzklage erwägen, um den zweifelhaften Missbrauch Ciceros nicht weiter durchgehen zu lassen. Nur wer wäre dazu klageberechtigt? Vielleicht Winfried Stroh.

Ganz anders geht es mir mit dem Merkur. Weiterlesen

Angst vor der Gleichheit

Vorbemerkung

Den folgenden Text habe ich am 30. 29. Januar 2014 in rasender Eile niedergeschrieben. Am nächsten Tag trug ich ihn bei einer Veranstaltung der Queer Lectures im taz-Café vor. Der Text erfüllt infolge der Technik der nicht redigierten Niederschrift die formalen Kriterien eines Blogeintrags. Vielleicht erscheint er eines ferneren Tages auch als dann dafür redigierte Veröffentlichung.  Die Vorgeschichte führt über ein Jahr zurück, als in Frankreich und Italien ein Essay von Giorgio Agamben für Verwirrung sorgte. Er hatte damals in Nachfolge Alexandre Kojèves darüber nachgedacht, in welcher politischen Konstellation auf die europäische Krise zu reagieren sei. Wenige Wochen später nahm sich Dominique Venner vor dem Altar von Notre-Dame das Leben und widmete seinen Tod dem Kampf gegen die mariage pour tous.

Ich werde heute nicht als Chronist reden. Ich werde (fast) nichts erzählen über Gewalttäter, über miserable Gesetze, über Richtersprüche, über Kardinäle oder Päpste (wir haben ja gerade zwei davon). Ich werde heute Abend auch keine Exegese jener allzu geläufig und routiniert klingenden, irgendwie alle und niemanden eingemeindenden Buchstaben LGBTI* vornehmen. Warum unterscheidet sich diese Abkürzung so wenig von den Markenzeichen tiefergelegter Automobile? Das sind wir doch nicht, meine Lieben. Gefährten schon. Nur ist das etwas Anderes. Weiterlesen

Die Ikonographie der Schutzweste

Dieses Photo hat über Pfingsten Schlagzeilen gemacht. Der schwedische Ministerpräsident Reinfeldt ist in Kontrolle der Ruder. Seine Gäste sind ihm ausgeliefert. Es sind bisher keine Bilder bekannt geworden, die die Gäste dabei zeigen, wie sie in das Ruderboot gelangt sind. Frau Baumann, wenn nicht die Kanzlerin höchstselbst, wird darauf geachtet haben, dass das Verlassen festen Grundes unbeobachtbar bleibt. Weiterlesen

Regelbruch als Versprechen. Anmerkungen zu Jung & Naiv

Der folgende Beitrag ist eine kleine Kostprobe auf einen Essay, den ich für einen von Günter Bentele und Felix Krebber bei Springer VS herausgegebenen Sammelband geschrieben habe. Das Buch erscheint im Spätsommer 2014. Ich habe zur Illustration den Beitrag um die jüngste Folge von Jung & Naiv ergänzt, Tilo Jungs Gespräch mit Glenn Greenwald. Ich empfehle besonders den Schluss, an dem Tilo mit Glenn über das Crowdfunding für Krautreporter redet. Die deutsche Übersetzung dieser Passage findet man am Ende dieses Beitrags.

Vorbemerkung
Gibt es Indizien für paradoxe Verarbeitungsmuster des Wandels, den wir in der Medienwelt erleben? Ende Januar 2014 stellt der Perlentaucher (Chervel/Seeliger 2014) seine tägliche Feuilleton-Übersicht um. Nun trifft das Perlentaucher-Team eine Auswahl entlang der weltweiten Emergenz neuer Themen und Debatten. Sein Publikum, bisher daran gewohnt, auf einen Blick zu erfassen, welches führende deutsche Printmedium welche Themen bringt, reagiert irritiert. Bisherige Relevanz-Kriterien (die FAZ eröffnet mit Sotschi, die Süddeutsche mit Bayreuth) scheinen dahin. Nur mit Mühe (wenn überhaupt) scheint genau die Frage noch beantwortbar: Wer bringt was? Nur warum das überhaupt noch wichtig sein könnte, genau danach wird nicht gefragt. Die Lebenswelt der an den Diskursen Interessierten scheint erschüttert. Sie wirken auf die Ungleichzeitigkeit nicht vorbereitet. Dass die neue Übersicht neue Koordinaten für die Wahrnehmung von Relevanz bereit stellt, tröstet nicht die uneingestandene Trauer über den Verlust der alten institutionalisierten Relevanz. Weiterlesen

Galgenhumor

Wir befinden uns in der zehnten Woche von Barack Obamas Präsidentschaft. Heute wird Finanzminister Geithner seinen Plan vorstellen, wie die toxischen Papiere aus den Bilanzen der Banken verschwinden. Über die bisher bekannten Details urteilt Nobelpreisträger Paul Krugman vernichtend. Geithners Plan sei die Neuauflage einer Idee seines Vorgängers Paulson. Der Fehler liege in der Annahme, dass die Banken an sich gesund seien und ihre toxischen Papiere einen höheren Wert besäßen, als der Markt jetzt dafür zahlen will. Weiterlesen

Kurzer Draht

Der community organizer in chief hatte gestern Besuch. 85 amerikanische Bürgermeister trafen Obama und Biden im East Room des Weißen Hauses. Morgen empfängt er die Gouverneure der Bundesstaaten zum Essen. Der Präsident nimmt sich alle politischen Akteure zur Brust, bevor er am Dienstag im Kongress seine Rede zur Lage der Nation hält.

Ihr habt unsere Telephonnummern, sagt Biden zur Begrüßung. Wir erwarten von Euch, dass ihr den kurzen Draht auch nutzt. Ihr wisst, wo wir sind. Biden redet Tacheles. Dass die amerikanischen Städte zu oft und zu lange sträflich vernachlässigt worden seien (Obama installierte gestern einen eigenen Beraterstab für Urban Affairs, Chef ist Adolfo Carrión, der in den letzten Jahren die Bronx auf Vordermann gebracht hat.

Der entscheidende Satz Bidens lautet: Wir bleiben weit entfernt davon, das wirtschaftliche Potenzial unseres Landes zu realisieren, wenn es Leute gibt, die um die Ecke wohnen, aber Lichtjahre davon entfernt sind, ihre eigene Chance zu bekommen.

Auch der Präsident fackelt nicht lange. Er hält den Wurstzipfel hin und sagt. Beißen müsst ihr schon selber. Wer diese einmalige Chance verpasst, dessen Bürger können das schwarz auf weiß bei recovery.gov nachlesen. Obama zieht die Schrauben noch enger: We can´t tolerate business as usual – not in Washington, not in our state capitols, not in America´s cities and towns.

Diese Rhetorik setzt auf politische Wirkungsgrade. Jeder Auftritt erzeugt Druck, jenseits der tradierten checks and balances. Obama raspelt kein Süßholz, er winkt mit dem Zaunpfahl. Wer nicht spurt, weiß, was auf ihn wartet.

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