Auf dem Weg …

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… zum Optiker entscheide ich mich, am Kottbusser Tor nicht umzusteigen, sondern zu Fuß zum Optiker zu laufen. Eine via rosa, sozusagen, in Erinnerung an die späten 70er Jahre, als mein damaliger Freund KK im Tali-Kino Filme vorführte und ich daher hinter der Leinwand sitzen konnte und von da aus das Geschehen im Kinosaal seitenverkehrt wahrnahm. Blixa hieß da noch Skorbut und fegte das Kino nach der Rocky Horror Picture Show. Der Inhaber des Kinos verjuckste die Einnahmen bei seinem Dealer, bis es der 20th Century Fox zu bunt wurde und damit war das Schicksal des Kinos besiegelt, wäre da nicht später mit dem Movimento ein würdiger Nachfolger eingezogen.

Erst aber mache ich halt vor dem Café Kirsche und genieße den zweiten kleinen Espresso des Morgens. Als ich an der Schönleinstraße vorbeilaufe, erinnere ich mich an die Diplom-Klausur zum Thema Medienpolitik, die ich mit Brigitte F. in ihrer Groß-WG vorbereitete; es ging damals um die ersten regionalen Kabelpilotprojekte und Fragen von Binnen- und Außenpluralität, ein Thema, dem Alexander Kluge seine Nische in den Privatsendern verdankte, weil er im Einerlei des albernen Programms von RTL und SAT1  tatsächlich für unerwartete Pluralität sorgte, ein kreatives riesiges Feigenblättchen. Die für die Klausur zuständige Dozentin war Georgia Tornow, die einige Monate später bei meiner mündlichen Prüfung (geleitet von Franz Ansprenger und Johannes Agnoli) als Protokollantin zu spät gekommen war und sich den Abschnitt über meinen mündlichen Vortrag (zu Hans Blumenbergs „Arbeit am Mythos“) von Agnoli diktieren lassen musste. Beisitzer Albert Statz verhinderte die Notengebung von Ansprenger und Agnoli, die mir ein am OSI fast völlig unübliches summa cum laude ins Zeugnis schreiben wollten, weil ich im Fach Außenpolitik gegen seine damalige Position zur Sicherheitspolitik in Südostasien nach dem Ende des Vietnamkriegs argumentiert hatte. Meine Skepsis erwies sich als begründet.

Am Zickenplatz erinnere ich mich an die erste Berliner Wohnung des damals frisch aus Münster nach Berlin gezogenen Doktoranden Bernhard D., der zusammen mit François Pescatore zwei Essaybände für mich aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben hatte. Bald darauf erschien ebenfalls von beiden übersetzt bei Stroemfeld/Roter Stern der Band „Lektüre zu de Sade“. Nun bin ich schon beim Kino und damit zweimal zweiundzanzig Jahre in meinem Leben rückwärts gegangen. Die Episode als Mitgründer des Schwarzen Cafés fand anderswo in jenen Jahren statt, weswegen ich sie hier ausblende, mit einer Ausnahme: meinem Dank an Monika Döring, der späteren Senatsrockbeauftragten. Unter ihrer Regie verfeinerte ich in der Küche des Cafés meine Kochkenntnisse, die Grundlagen verdanke ich natürlich meiner Mutter.

Keine Abzweigung, mein abendliches Fazit, hätte mich auf einen anderen Pfad gebracht. Für die Wissenschaft war ich im neuen Regiment mit 30 Jahren zu alt für eine Promotion, für das Verlagsgewerbe zu zwiespältig mit der rosa Winkel-Vorgeschichte, so wirkt das Patchwork des Krams, den ich seither als Autor, freier Dramaturg, Rezensent, Übersetzer und Herausgeber verantwortet hatte, nur folgerichtig. Die Freiheit des Denkens erlaubt krumme Wege und pfeift auf Bewährungsaufstieg.

Die neue Lesebrille kann ich in zwei Wochen abholen.