Im März 2019 kommen die ersten beiden Bände einer kleinen Buchreihe heraus, die ich für den Dudenverlag schreibe. Es geht um Wörter aus den 50er und 60er Jahren. Im Herbst 2019 folgen die Bände zu den 70er und 80er Jahren. Ein seltsames Schreiberlebnis, in die eigene Kindheit, Adoleszenz und das frühe Erwachsensein einzutauchen und der Mischung aus Fremdheit und Vertrautheit nachzugehen. Zu jedem Wort gibt es einen Miniessay von circa 1000 Zeichen. Die Bücher sind illustriert mit Fotos aus dem jeweiligen Jahrzehnt.
Das hässliche Entlein, hündisch auf den Kopf gestellt
Beim Spaziergang mit Lola ist mir heute Mittag aufgefallen, wie sanft und geradezu unspürbar sie an der Leine knapp hinter mir herläuft, dass mich auf dem Nachhauseweg plötzlich ein namenloser Schrecken darüber befiel, der Anblick dieses beidseitigen Schwebezustandes könnte von Bösewichten missbraucht und so ausgenutzt werden, dass sie unbemerkt Lola von der Leine lösten und einen stinkenden ranzigen zahnlosen missmutigen hässlichen alten Rüden an ihrer Stelle anleinten. Der Schrecken, den diese Idee auslöste, war so maßlos, dass ich nicht wagte, mich umzudrehen, bis wir das Haus erreichten und mir zu meiner größten Erleichterung klar wurde, dass Lola mich tatsächlich nach Hause begleitet hatte.
Helga Paris
Ich nahm mir drei Tage hundefrei. Wenn ich Lola leise den Namen ihrer Hüterin sage, weiß sie, dass sie einen Ausflug zu ihrem Teilzeit-Rudel unternimmt. Sie springt dann vor Freude an mir hoch, weil sie einige Tage namenloser Abenteuer vor sich weiß. Weiterlesen
Aufwachen
Nun gehört es zu den täglichen Routinen des Lebens mit Hund, am frühen Morgen, dieser Tage wirklich früh, durch die Straßen an vielen geöffneten Fenstern vorbeizulaufen, und heute fiel mir auf, dass der Klang der Wecker monoton geworden ist, als gäbe es nur noch den einen, der sich nicht durch das Schepperschrillen der alten Blechkameraden, sondern durch ein fast kardiologisches Fiepen auszeichnet, das die meisten nicht von allein aufwachenden Menschen in Intervalleinstellung über sich ergehen lassen, ohne beim ersten (oder xten) Mal aus den Federn zu springen. Was hätte Jacques Tati daraus gemacht oder Claude Faraldo? Es defibrilliert auf hunderten von Metern, als spräche daraus insgeheime Sehnsucht nach mächtigen Sirenen.
Ein Dilemma: warum Framing ein Etikettenschwindel ist
Zunächst eine Offenlegung. Sie führt zurück in den Spätsommer des Jahres 2013. Michael Stognienko von der Böll-Stiftung hatte mich zu einem Termin eingeladen, bei dem Elisabeth Wehling den versammelten Wahlkämpfern der Grünen, der Linken und der Sozialdemokraten ihre Methode vorstellte. Sie war im Begriff, ihr Beratungsangebot, entwickelt und erprobt in den USA, nun in Europa auszurollen. Der Bundestagswahlkampf war längst durchkonfektioniert. Und dann kommt diese Deutschamerikanerin und fragt die Wahlkämpfenden: „Was sind Eure Werte?“ Das war ein Augenblick der Wahrheit, der keinem der Anwesenden gefallen konnte. Denn es kamen bestenfalls Abstraktionen. Die Frage schien so einfach, die Antworten aber bezeugten, wie unvorbereitet die Beteiligten an diesem Nachmittag aussahen. Weiterlesen
Eine Verschwörung
Über Günter Hack erfuhr ich heute Morgen von dieser Story. Um es zurückhaltend auszudrücken: sie ist atemberaubend. Wenn sich herausstellt, dass wahr ist, was Jeff Bezos, der Amazon-Gründer, hier ausführt, versuchen Spießgesellen des amerikanischen Präsidenten, ihn zu erpressen und damit Rache an der Washington Post zu nehmen. Dass Bezos sich selbst zum Kauf beglückwünscht, hat viele Gründe. Hier sind es gute. Hack denkt an William Gibson als einen Autor, der solchen Stoff zu einem Thriller verarbeiten könnte. In meinen Augen wäre es auch Hack, der das könnte. Welcher Verlag gäbe ihm den dafür nötigen sechsstelligen Vorschuss?
Marlenes Schweigen
Für die Filmzeitschrift Sissy schrieb ich vor zwei Jahren über meinen Filmmoment, einen Ausschnitt aus Rainer Werner Fassbinders Film „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Robin Detje wünscht sich in diesem Herbst mehr Fassbinder-Nacherzählungen von mir. Das ist eine Bitte, die ich gerne befolge. Bald mehr! Weiterlesen
Am Fuß der blauen Berge
Die Erinnerung führt zurück in den Frühling 1986. Damals habe ich in der Camargue die Reisfelder bestellt, Feldränder abgefackelt, Ruinen entrümpelt und zwei Monate später über das Filmfestival in Cannes berichtet. Es war das Jahr, in dem Tschernobyl explodiert war, in dem die Franzosen sich über die Deutschen belustigten, bis sie über libération erfuhren, wie belastet der strahlende Regen an der Côte d’Azur war. Im Hafen von Cannes lag Roman Polanskis Piratenschiff vor Anker und das Festival zeigte Oshimas Film Max, Mon Amour. Im Jahr zuvor hatte ich Klaus Heinrichs Vorlesung über Lukrez gehört, als hätte ich gewusst, dass ich kaum ein Jahr später in die Natur der Dinge und in die Dinge der Natur tiefer eintauchen würde, als mir zuvor vorstellbar erschienen wäre. Weiterlesen
Rettet die Mauer!
Wenn ich mich richtig erinnere, entstand dieses Fake-Interview für Radio 100 im Herbst 1988 nach einer Erklärung des AL-Abgeordneten Dirk Schneider. Ich erfand eine Bürgerinitiative unter dem Vorsitz von Prinz Louis Ferdinand von Preußen und phantasierte, dass das Paul Getty-Museum der DDR ein Kaufangebot für die Mauer unterbreitet hatte, weil die Kuratoren die ersten Bilder der Berliner wilden Maler nach Kalifornien holen wollten. Weiterlesen
Nachtflug: In der Medina von Sousse
Im Sommer 1988 verbrachte ich sechs Wochen in der Medina von Sousse. Ein Freund von mir hatte dort einige Jahre vorher ein Haus gekauft, was mir die Gelegenheit gab, wenige Monate nach der Entmachtung von Habib Bourghiba einen kurzen Vorläufer des arabischen Frühlings zu beobachten. Es dauerte nicht lange, bis ich aus der Rolle des Beobachters in die eines öffentlichen Schreibers wechselte. Weiterlesen
Dieser verspätete Schrei
Im November 1988 produzierte ich zusammen mit dem Sprecher Wolfram Haack zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome bei Radio 100 einen Nachtflug mit Texten aus einem Lesebuch, das ich für den Frankfurter Bund für Volksbildung zusammengestellt hatte. Die politische Entwicklung in den USA verleiht dieser Textauswahl eigene Aktualität.
Am 3./4. März 2017 gibt es im Columbia-Theater ein kleines Festival zum 30. Geburtstag von Radio 100, zu dessen Gründern ich 1987 gehört habe. Bis dahin werde ich einige weitere Nachtflüge hier online stellen, als Neueinstieg eines analogen Radiomachers in die Podcast-Welt. Weiterlesen
Der nächste Situationismus
Die Zeitenwende hat uns im Griff. Schon jetzt lassen sich, mit der gebotenen selbstironischen Distanz, einige Schlussfolgerungen ziehen. Es gibt für die Dauer einer Trump-Präsidentschaft Sonderkonjunkturen für den Buch- und Qualitätsmedienmarkt. Autoren wie Günther Anders, Emile Cioran, Albert Camus, Eugène Ionesco, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno werden mit neuer Begeisterung, hoffentlich auch tieferem Verständnis gelesen. Minima Moralia und Negative Dialektik brauchen alsbald Sonderauflagen. Weiterlesen
Der Narzissmus unserer Zeit
Eine Diskussion auf Twitter über EU-Kommissar Oettinger hatte mich auf diesen Gedanken gebracht: Alle sind wie er, keiner aber so sehr wie er selbst. So entsteht eine neue Verwechselbarkeit. Sie zeichnet sich aus durch ein Amalgam aus Weinerlichkeit, starken Meinungen (im kleinen Kreis) und das Siegergefühl, für die namenlos bleibende Mehrheit zu sprechen. Der Mielke von heute sagt nicht: „Ich liebe euch doch alle.“, sondern „Ihr müsst mich doch alle lieben, dafür dass ich so bin, wie ich bin!“
Der Narzissmus unserer Zeit kann insoweit als Ausdruck der Außensteuerung verstanden werden, als ein Akt grandioser Unterwerfung.
Als wärst du ein anderer
Die Tragödie von Orlando hat einen Schlussakt, der nicht enden will. Er kann auch nicht enden. Nicht aufgrund der Trauer und des Zorns und der Anteilnahme oder ihrer Maskerade, die nur zu umschreiben vermag, was sie nicht aussprechen will. Auch nicht, weil der Status der Opfer wie ein kultureller Replikationskonflikt wirkt, der die tatsächlichen Opfer und die Gruppe, die sich infolge des Anschlags als Opfer designiert fühlt, um die Menschenwürde bringt, auf die sie den gleichen unteilbaren Anspruch geltend macht, den das Grundgesetz allen Menschen zuspricht. Was wäre das für eine Menschenwürde, die nur unter der Voraussetzung anerkannt würde, dass sie ihr Leben lässt? Weiterlesen
Aufstand des Körpers
Ich hätte gewarnt sein müssen. Schon als das Buch ankam, vor über vier Wochen, bemerkte ich, noch bevor ich es überhaupt aufgeschlagen hatte, ein Taumeln, eine leichte Irritation, die ich sogleich abtat, so wie man mit dem alternden Körper umgeht, was mag das schon sein, mal wieder der zu niedrige Blutdruck oder so. Weiterlesen
Die Wirklichkeit ist der Test
„Später erzählt K., wie ein Wiener Komiker, in New York ankommend, vor den Pressefotografen die Erde küsst. Das dürfe einen nicht stören, sagt K., es bedeute nur: „Küss die Erde!“
Am Sockel der Freiheitsstatue befand sich seit 1903 eine Bronzetafel mit einem Sonett von Emma Lazarus. Seine letzten Zeilen lauten:
„Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie
Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,
Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt‘ ich mein Licht am gold’nen Tore!“
In diesen Tagen helfen historische Präzedenzfälle, hier die Erfahrungen der deutsch-jüdischen Emigranten in den USA, besser zu verstehen, was tatsächlich geschieht. Mit Staunen, auch mit gemischten Gefühlen kommentieren es die internationalen Medien. Vor ihrer Reise nach Indien gab die Bundeskanzlerin dem Deutschlandfunk ein Interview:
„Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist – ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat: „Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt“ –, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.“
Schäubles Rennen gegen sich selbst
Die Idee des Sportmärchens verdanke ich Ödön von Horváth. Heute Abend zeigt die ARD ein Filmporträt von Stephan Lamby über Wolfgang Schäuble. Für Zeit Online habe ich mir den Film angesehen.
Vor fünf Jahren habe ich in meinem alten Blog auch über Lambys Porträt Peer Steinbrücks geschrieben.