Versuch zu verstehen

V

Im Frühsommer 1989 kam ich bei einem Projekt unter dem Dach des Koordinierungsrats der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit an die Grenze meiner Leistungskraft.

Gefördert durch das BMI leitete ich ein Projekt für die Begegnung von deutschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit jungen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Philadelphia. Erst fuhren die Deutschen für zwei Wochen in die USA, dann flog die gesamte deutsch-amerikanische Gruppe nach Frankurt und residierten in dieser Zeit in Darmstadt. Bevor die Reise nach einem Besuch von Auschwitz endete, gab es noch eine Vorbereitung im Haus von Aktion Sühnezeichen in Berlin. Es gab eskalierende Situationen, in denen die Jugendlichen quasi Lager bildeten und damit glaubten, im Recht zu sein mit Vorwürfen. Mir gelang es, die Eskalation mit einer Erinnerung wieder einzufangen. Ich verdankte sie einer Hörspieltagung der ARD im Literarischen Colloquium am Wannsee. Dort berichtete der Hörspielautor Adrian, wie er in einem Lazarettzug mit anderen Kameraden halt machen musste, um einem Güterzug auf dem Weg nach Osten auf der Nebenstrecke Platz zu machen. Adrian war in seinem Waggon unter Kriegsblinden der einzige Soldat, der mit einem Auge noch sehen konnte, und er erzählte seinen Kameraden, was er sah. Mit dieser Erinnerung konnte ich den Jugendlichen zu einem gemeinsamen Verständnis und zu einer Deeskalation ihrer Konflikte verhelfen. Meine Fragen an sie waren: Seid ihr die Blinden oder der Einäugige, und was unterscheidet Euch in dem Versuch zu verstehen?