Zur Phänomenologie des Abwegigen

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Heute ist mir durch einen Hinweis auf Twitter etwas aufgefallen. Seit geraumer Zeit, im Grunde seit Beginn der Pandemie, habe ich immer fassungsloser den publizistischen Weg eines früheren Kollegen und seines Begleittrosses verfolgt, der in ungefähr allen Fragen, die er für strittig erklärt, sich bevorzugt auf die Seite von abwegigen Experten geschlagen hat. Uwe Sinha zog eine Parallele zu einem politischen Großkonflikt aus dem Spätsommer 2015.

Das war hilfreich. Denn wer damals, in der Flüchtlingskrise, von „Kontrollverlust“ und von „Fluten“ sprach, also Zuflucht bei Schreckensbildern der Natur suchte, bemängelt nun Kontrollexzesse im politischen Pandemiemanagement und reaktualisiert Ressentiments namentlich gegenüber der Bundeskanzlerin aus einem anderen Blickwinkel.

Das erfolgt oft mit Referenzen auf Fachleute, die in ihrer scientific community bestenfalls als Minderheitsmeinung mit fraglicher Evidenz und zweifelhafter Expertise zur Kenntnis genommen wurden, aber durch ihren Dissens den Eindruck zu wecken halfen, dass es noch halbwegs wissenschaftlich in der Kritik der ergriffenen Maßnmahmen zuginge.

Unter den Tisch fiel in den meisten Fällen, dass man sich auf Studien bezog, die noch nicht evaluiert waren, man printete also mit Preprint-Scheinexpertise. Warum? Es ging vor allem darum, das Ressentiment gegenüber der Bundeskanzlerin zu reaktualisieren. Hauptsache, ihre Maßnahmenpräferenzen werden in Misskredit gebracht. Man muss kein Merkel-Fan sein, um dieses Theater verwerflich zu finden.

Diese Oszillationen sind inzwischen zu einem eigenen Korpus (von Aerosolphysik bis Herdenimmunität) geworden, bei dessen Analyse nicht die Tatsachenbehauptungen von Interesse sind, sondern das Gestöber, mit dem sie intoniert werden. Es oszilliert zwischen Phobie und Verdrängung. Weil die Phobie aber bekräftigen könnte, was im Pandemiemanagement sich als notwendig erwiesen hat (Vorsorge, Masken, Distanz, Lockdown usw.), werden Phänomene begründeter Sorge in die Kulisse geschoben mit der Folge, dass nun immer deutlicher das maßgebliche psychische Motiv in der Kritik des Pandemiemanagements deutlich wird: dem Schrecken wird durch scheinhafte Rationalisierung und Verdrängung symbolisch Einhalt geboten. Sie bezeugen Furcht durch Verdrängung. Sie erweisen sich selbst und ihren Argumenten einen Bärendienst.

Die Psychodynamik dieser Kritiker braucht Krawall. Nur mit Krawall finden sie Aufmerksamkeit, die sie nicht verdienen. Sie sind keine Freiheitskämpfer, sondern bedauernswert lärmende Pappkameraden. Last not least: die pandemiepolitischen Positionen eines regionalen Volksmusikfunktionärs könnten interessengeleitet sein, ohne dass er das in seinen Veröffentlichungen bisher offengelegt hätte.