Helga Paris

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Ich nahm mir drei Tage hundefrei. Wenn ich Lola leise den Namen ihrer Hüterin sage, weiß sie, dass sie einen Ausflug zu ihrem Teilzeit-Rudel unternimmt. Sie springt dann vor Freude an mir hoch, weil sie einige Tage namenloser Abenteuer vor sich weiß. Erst hatte ich zwei Tage im Haus der Bundespressekonferenz vor mir, am Abend des ersten zeigte Alexander Nanau einen Dokumentarfilm, der demnächst in Amsterdam Weltpremiere haben wird. Colectiv erzählt eine Geschichte aus dem postkommunistischen Rumänien, wo die Nomenklatura der sogenannten Sozialdemokratie Hüter eines korrupten Schlendrians ist, der einem den Atem verschlägt. Demnächst ist der Film im Fernsehen zu sehen, dann schreibe ich mehr dazu.

Der zweite Tag, Formate des Politischen 19, prüfte aus einer Vielzahl von Blickwinkeln, was den politischen Journalismus auszeichnet, bedrückt, weiter bringt oder auch auf der Stelle treten lässt. In einem kleinen Workshop befassten sich mehrere PodcasterInnen mit dem Radiomachen auf eigene Faust oder auf der Plattform eines gebührenfinanzierten Senders. Mir ist dabei aufgefallen, dass manche von ihren Produktionen als „Episoden“ sprachen, als folge ihr politisches Format einer narrativen Logik, die sonst Fiktionen vorbehalten ist. Mich interessierte auch, wie einer MedienhistorikerIn des Jahres 2040 die Produktionen wiederauffindbar und durchsuchbar gemacht würden. Später erzählte mir Stephan Detjen, dass das Deutschlandradio dabei ist, die Indexierung seiner Produktionen automatisch zu erstellen. Ob das dann einer Logik folgen wird, die alle audiovisuellen Formate erfassen wird, ist noch ungewiss.

Der dritte Tag führte mich heute zum Pariser Platz, durch die Wüsteneien von Weihnachtsmarkthütten am Potsdamer Platz, die abscheulicher nicht sein könnten, in die Akademie der Künste, wo das Werk der Fotografin Helga Paris gezeigt wird. Im Foyer der Ausstellung gibt es einen Dokumentarfilm, der wie ein Triptychon auf drei Leinwandsegmenten sie als Erzählerin inmitten von Bildern aus ihrem Werk zeigt. Paris hat eine mädchenhaft wirkende Form des Erzählens gefunden, die dem Click der Fotografin auf den Auslöser ihrer Praktica folgt oder vorausgeht, die Bilder finden so eine epische Verlängerung, eine erzählerische Belichtung, auch Verdunkelung, wenn es um traumatische Wendepunkte ihres Lebens geht.

Die Bilder romantisieren nicht, wie ginge das auch, wenn man den versmogten Himmel über den zerbröselnden Altbauten von Prenzlauer Berg sieht. Zu Beginn erzählt sie von einem Dokumentarfilm, der in New York die Geschichte von russischen Weltkriegsveteranen erzählt. Unter ihnen begegnet sie einem alten osteuropäischen Juden, der als erster Frontkämpfer der Roten Armee bei Stettin deutschen Boden betreten hatte, nicht weit von dem Ort entfernt, an dem die damals knapp achtjährige Helga mit ihrer Mutter und Schwester lebte. So schließt sich überraschend ein Kreis, der beide berührt, den jiddisch erzählenden Veteranen und die Veteranin eines poetischen Fotografierens, plötzlich wird ihnen bewusst, dass sie sich schon im Frühjahr 1945 in Gollnow hätten begegnen können, als die Rote Armee Westpommern eroberte.

Mich berührten besonders die Bilder von Autorinnen und Autoren der frühen 80er Jahre, die ich auch um diese Zeit gesehen und gesprochen haben könnte, spätestens 1987, als ich mit Johannes Jansen einen ersten DDR-Autor für meine Nachtflug-Sendung bei Radio 100 gewonnen hatte und er mich zu Fotovernissagen und Lesungen in den Jugendclub Mitte einlud.