Angst vor der Gleichheit

A

Vorbemerkung

Den folgenden Text habe ich am 30. 29. Januar 2014 in rasender Eile niedergeschrieben. Am nächsten Tag trug ich ihn bei einer Veranstaltung der Queer Lectures im taz-Café vor. Der Text erfüllt infolge der Technik der nicht redigierten Niederschrift die formalen Kriterien eines Blogeintrags. Vielleicht erscheint er eines ferneren Tages auch als dann dafür redigierte Veröffentlichung.  Die Vorgeschichte führt über ein Jahr zurück, als in Frankreich und Italien ein Essay von Giorgio Agamben für Verwirrung sorgte. Er hatte damals in Nachfolge Alexandre Kojèves darüber nachgedacht, in welcher politischen Konstellation auf die europäische Krise zu reagieren sei. Wenige Wochen später nahm sich Dominique Venner vor dem Altar von Notre-Dame das Leben und widmete seinen Tod dem Kampf gegen die mariage pour tous.

Ich werde heute nicht als Chronist reden. Ich werde (fast) nichts erzählen über Gewalttäter, über miserable Gesetze, über Richtersprüche, über Kardinäle oder Päpste (wir haben ja gerade zwei davon). Ich werde heute Abend auch keine Exegese jener allzu geläufig und routiniert klingenden, irgendwie alle und niemanden eingemeindenden Buchstaben LGBTI* vornehmen. Warum unterscheidet sich diese Abkürzung so wenig von den Markenzeichen tiefergelegter Automobile? Das sind wir doch nicht, meine Lieben. Gefährten schon. Nur ist das etwas Anderes.

Ich werde über Sprache reden, Unterschiede loben. Ich werde darüber reden, was es heißt, ein Lob des Unterschiedes anzustimmen und damit den politischen Kampf um Gleichheit vor dem Gesetz zu stärken.

Ich habe 15 Jahre meines Lebens als Strategischer Planer gearbeitet, als Kommunikationsberater. In allen Mandaten dieser Jahre erlebte ich, was es bedeutet, wenn die Sprache in die Irre führt. Daraus entsteht nichts Gutes. Dann entkoppelt sich, was wir erfahren, von dem, was wir tun. Dann entgleiten uns die Ziele, die wir erreichen wollen. Dann passt nichts mehr zusammen.

Ich werde mit einem Fanal beginnen: dem Suizid Dominique Venners vor dem Altar von Notre-Dame. Ich werde auf die Massendemonstrationen gegen die Ehe für alle in Frankreich eingehen. Ich werde darüber nachdenken, was das Wort Homophobie mit den Idealen der Französischen Revolution zu tun hat.

Dann wechsel ich das Register. Ich werde darauf zu sprechen kommen, wie wir die eigene Geschichte, das eigene Leben als Resonanzraum verstehen. In Resonanzen begegnen sich Klänge, Schwingungen, Stimmen und ihre Echos, Vernunft und Unvernunft. Dieser Abschnitt befasst sich mit dem Roman „Brandhagen“ von Hinrich von Haaren.

Ich werde im dritten Teil auf das Leben, auf das Werk und das Nachleben Alan Turings eingehen. Eine kurze Nebenbemerkung: Als ich 1978 zusammen mit Egmont Fassbinder den Verlag rosa Winkel von seinen Gründern übernahm, war eines der ersten kleinen Bücher, die wir herausbrachten, die deutsche Ausgabe der Streitschrift von Andrew Hodges: WITH DOWNCAST GAYS. Ich zitiere den ersten Satz aus seiner Einleitung:

The ultimate success of all forms of oppression is our self-oppression.

 

Der schlagende Erfolg aller Formen der Unterdrückung ist unsere Selbstunterdrückung. Für die deutsche Ausgabe fanden wir den Titel „Das unerhörte Schweigen der Schwulen“. 36 Jahre später beginne ich, die bittere Weisheit der eigenen Idee dieses Titels zu verstehen. Ich erzähle davon, weil Andrew der Biograph Alan Turings ist und an seiner Geschichte zu verstehen gibt, was es heißen kann, einen Unterschied zu setzen.

Im vierten Teil gehe ich auf das kürzlich am Maxim Gorki Theater uraufgeführte Stück von Falk Richter ein: Small Town Boy. Ihr kennt das Lied von Jimmy Somerville. Die Theaterkritik hat in ersten Reaktionen umstandslos das Bühnengeschehen mit der Wirklichkeit verwechselt, die Montage von O-Tönen mit ihrem politischen Missklang im Alltag. Abgelegt unter der Kategorie „Homophobie“ west das so vor sich hin. Es erinnert mich an eine Idee Joseph Brodsky in seinem Essay „Der Zustand, den wir Exil nennen“. Darin vergleicht er Exilschriftsteller mit einem Buch, das in der Bibliothek falsch abgelegt wird und damit wie aus der Welt verschwunden scheint. Es geht tatsächlich heute um das Untergehen und das fast unerwartbare Wiederauftauchen.

Ich werde schließen mit einem Lob der Differenz.

Ein Fanal

Am Montag veröffentlicht er auf seinem Blog ein Abschiedsmanifest. Am Dienstagnachmittag geht er in den für Besucher um diese Zeit gesperrten Chor von Notre-Dame, legt den Abschiedsbrief auf den Altar und erschießt sich. Dominique Venner, der Theoretiker der französischen Rechtsradikalen, setzt damit ein Fanal, nur wenige Tage vor der nächsten Großkundgebung am darauf folgenden Sonntag. Am Abend des Suizids grölen Rechtsradikale vor der Statue von Karl dem Großen das Landsknechtslied. Eine Strophe darin lautet:
Doch Furcht, die ist uns unbekannt,
Wie auch die Würfel liegen.
Wir kämpfen für das Vaterland
Und glauben, dass wir siegen.

In der politischen Folklore können wir das Lied mit dem berüchtigten Lied eines anderen wild gewordenen deutschen Katholiken vergleichen. Es ist nur ein paar Jahrhunderte jünger. Es zittern die morschen Knochen. Eine Strophe, später verschwand sie aus den Lesebüchern, darin lautete:

Sie wollen das Lied nicht begreifen,
Sie denken an Knechtschaft und Krieg
Derweil unsre Äcker reifen,
Du Fahne der Freiheit, flieg!

Die Geschichte spielt verrückt. Der in den Straßen von Paris randalierende Mob vereinigt konservative Katholiken, Muslime und Juden. Zusammen singen sie die Marseillaise. Gegen Freiheit. Gegen Gleichheit. Gegen Brüderlichkeit. Kaum macht die Nachricht vom Suizid Venners die Runde, bekundet Marine Le Pen via Twitter ihren Respekt.

Wenige Wochen vorher hatte Giorgio Agamben in der Libération einen Essay veröffentlicht, in dem er sich auf ein Memorandum Alexandre Kojèves vom August 1945 bezieht. Kojève schrieb es für General de Gaulle. Deutschland lag in Trümmern. Und der Hegel-Experte Kojève sah es flugs wieder auf den Beinen und Frankreich zwischen zwei Fronten zermalmt: dem angloamerikanischen Empire mit den Teutonen als Verstärker, den Kommunisten auf der anderen Seite. Kojève plädierte für ein katholisches Reich, das Frankreich, Spanien und Italien unter französischer Führung verbinden sollte. Dieses Memorandum steht in einer historischen Kontinuität der französischen Politik, die vom Westfälischen Frieden bis in unsere Gegenwart reicht.

Agamben reaktualisierte das Memorandum, vielleicht sogar mit ehrenwerten Motiven, als einen Versuch, sich aus dem europäischen Austeritätsregime zu lösen, das namentlich Spanien, Italien und Frankreich zu schaffen macht. Es würde mich nicht wundern, wenn Marine Le Pen bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Kojève und Agamben, ohne sie um ihre Einwilligung zu bitten, in die Wahlplattform des Front National übernimmt und unter dem Leitmotiv der Regierung des Marschalls Pétain die Wahlen gewinnt: Travail, Famille, Patrie – Arbeit, Familie, Vaterland.

Die Geschichte spielt verrückt. Nicht einmal Eugène Ionesco hätte erfinden können, dass eine sozialistische Regierung ins Wanken gerät, weil sie das Sakrament der Ehe für alle zugänglich macht. Eine Weltpremiere des Wahnsinns. Die Geschichte spielt verrückt. Der bekennende Heide Dominique Venner sucht vor dem Altar von Notre-Dame den Freitod, weil sein Blut den Kraftschluss mit den heidnischen Fundamenten herstellen soll. So verwandelt er sich in den Augen des am Sonntag randalierenden überwiegend katholischen Mobs in einen heidnischen Märtyrer, der Zeugnis ablegt für die politische Verirrung Frankreichs, die sich seines Suizids bemächtigt.

Die symbolische Überfrachtung könnte nicht verwirrender sein. Genau darin liegt die verheerende Logik. Die entleerten Zeichen werden gewaltsam umgeschrieben und in den Dienst einer Sache genommen, die die Idee der Zivilisation vor dem Altar der Kirche zum Opfer bringt. Im Namen der Zivilisation geht die Reise zurück in die Barbarei. Die Gleichzeitigkeit zur tiefen ökonomischen Krise Frankreichs wirkt wie ein Brandbeschleuniger: Die Vernunft ist außer Kraft gesetzt. Fortschritt bezeugt die Reversibilität seiner selbst. Rette sich, wer kann!

Es wäre zu einfach, die Randale in den Straßen von Paris unter der Chiffre der Homophobie abzulegen. Tatsächlich heißt das Wort, aus dem Altgriechischen übersetzt, Gleichheitsangst, Angst vor der Gleichheit. Was passiert, wenn unter dem Dreiklang der Großen Revolution von 1789 – Liberté, Égalité, Fraternité – der Kampf gegen die Gleichheit aufgenommen wird? Auf welche Idee der Gleichheit rekurriert die Randale? Die Gleichheit vor dem Gesetz kann es nicht sein: die treibt sie ja auf die Barrikaden.

Ihren Eingang in die Zivilisationsgeschichte fand die Idee der Gleichheit unter dem Eindruck der Sterblichkeit. Auch Gottgesalbte segneten das Zeitliche. Der König ist tot. Es lebe der König. Dieser Tradition folgt der Mob. Für unsterblich erklärt er die eigenen Normen, so wie einst das royale Regime sich selbst. Für sterblich und verderblich erklärt der Mob alles, was der eigenen Norm nicht entspricht. Die semantische Operation vollzieht im Namen der Gleichheit einen vorweg genommenen symbolischen Mord an den Ungleichen. Die semantische Operation wirkt wie ein Untatversprechen. In Zeitlupe kommt es auf uns zu.

Sind wir Aliens?

Marschen, Moore, Kanäle, ein See, Weißdornhecken und ein so oft so tief über dem flachen Land hängender trüber Himmel prägen die Landschaft. „Wer diesen Landstrich zur Besiedlung freigegeben hat, gehört erschossen“, sagt der Vater des Icherzählers. Das verspricht trübe Gemüter und verstockte Charaktere in später Nachfolge Theodor Storms. Tatsächlich erinnert Hinrich von Haarens Roman „Brandhagen“ eher an Federico Fellinis Film „Amarcord“, nur dass seine Coming-of-Age-Geschichte ihren Schauplatz nicht an der italienischen Adria Mitte der dreißiger Jahre, sondern in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren im Hinterland der Nordsee findet. Von Haaren erzählt die Kindheit eines zweifelhaften Jungen aus gutem Hause. Die Eltern betreiben einen Haushaltswarenladen mit Porzellan und Nippes für Bürger- und reiche Bauernfamilien.

Der Icherzähler ist ein spät geborenes Einzelkind, das wie Vater und Großvater ein stiller Brüter zu werden verspricht. Die Frauen haben hier das Sagen, die herrische Großmutter, im steten diskreten Zwist mit der Mutter, einer Pastorentochter, während die stillen männlichen Brüter in der Werkstatt zerbrochenes Porzellan kitten. Der Junge ist schwach geraten, ein Spätentwickler, Sorgenkind der Eltern, Liebling der Großmutter. Früh entwickelt dieser Knabe seinen Eltern verborgen bleibende Talente. Versuche, ihn durch Kindergarten und sportliche Ertüchtigung auf den richtigen Weg zu bringen, schlagen fehl, denn er weiß mit Hilfe der Großmutter sich allen Versuchen der Normalisierung zu entziehen. Es mag ihm an Tatkraft, an Fleiß, an gärtnerischem oder kaufmännischem Geschick mangeln. Besonders darin übertrifft ihn die gleichaltrige Cousine Alexandra, welche die Großmutter deshalb zur künftigen Kauffrau bestimmt: „Gleich am ersten Tag habe ich gewusst, dass du für den Handel nicht taugst. Du hattest etwas Lahmes im Gesicht“, urteilt die Großmutter über den Säugling.

Was bleibt dem Kleinen übrig, als in dieser harten kalten Welt die eigenen Stärken im Verborgenen zu entwickeln? Erst ist er bloß gefräßig, schleicht sich spätabends in die Küche. Bald entwickelt er in der Rolle des Lauschers ein scharfes Gehör und verfügt über ein Näschen, das er mit Vorliebe in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, wie die Briefe und Unterwäsche des Hausmädchens und später die schmutzigen Geheimnisse der Bürgerfamilien von Brandhagen.

Die Nase des Erzählers bringt ihn auf Abwege. Mit ihr wittert er feine und weniger feine Unterschiede. Sie lehrt ihn den Ekel vor dem Lieblingsgericht des stillen Vaters, der „Schwarzsauer“-Blutsuppe. Mit ihr schnuppert er an der Cousine, dem Hausmädchen und vor allem an den Spielkameraden. Die neugierige Nase trägt ihm Prügel durch die Mutter ein. Prügel nennt sie „eine Jagdreise“.

Er erkundet wie ein eingeborener Alien den Verfall des bürgerlichen Anstands. Die Wörter, mit denen Großmutter und Mutter feine Unterschiede markieren, verhelfen ihm zu einem absoluten Gehör für falsche Töne und irre Gebote, verwandeln den Jungen in einen überaus aufmerksamen Beobachter mit einem gut entwickelten Sinn fürs Komische: für die Klatschsucht der Schreibwarenhändlerin, die er mit erfundenen häuslichen Katastrophen versorgt, für die hypochondrische Lehrerin, die den Jungen in religiösen Wahn versetzt, für die geschäftstüchtige Inhaberin des Modegeschäfts, die der Mutter für den jährlichen „Grünen Abend“ die irrsten Roben andreht, für die Gelüste der Asta von Merk, die erst den Cousin und später dessen Vater verführt.

Die selbstgerechte Gewissheit der Erwachsenen, auf der richtigen Seite zu sein, lebt von dem Raunen über gefallene Existenzen, die „auf der Etage“ leben. Zu denen gehört Tante Lise, als spätes Mädchen Opfer eines Heiratsschwindlers, dann allein erziehende Mutter, die nach Jahren „auf der Etage“ zurück in den Schoß der Familie kehrt, als ihre Tochter Krystina und der Icherzähler eingeschult werden.

Hinrich von Haarens Roman führt den Leser in eine Welt, die wie nach Jahrhunderten der Langen Dauer dabei ist sich aufzulösen. Sein Außenseiter wird zu einem Resonanzkörper für die Mikrobeben, die diese Welt erschüttern. In ihm erwacht ein Fremder, der mit den Füßen danach scharrt, das Weite zu suchen.

Was passiert in diesem eingeborenen Fremden? Er hört, er sieht, er fühlt. Er vergleicht. Er arbeitet wie ein Ethnopsychoanalytiker bei den Dogon. Nur leben seine Dogon nicht in Westafrika, sondern mit ihm zusammen in den Marschen des Nordens. Sie sind hoch ansehnliche Bürger und Kleinbürger, er dagegen ist ein Zweifelhafter. Er bildet mit seinem Körper, mit seinem Empfinden einen Resonanzraum für eine langsam an die Oberfläche dringende Sensation. ICH IST WIRKLICH EIN ANDERER. Der scharfe Blick der Großmutter bezeichnet ihn schon vor der Individuation als Anderen. Wohl gemerkt: Die Großmutter liebt den Kleinen, sie spricht keinen Fluch aus, sie nimmt etwas wahr, das robustere Gemüter nicht wahrnehmen. In dem Jungen arbeitet das Anderssein sich vor in die Sinnesorgane. Als wenn sich ein Parasit von den Fußsohlen langsam einen Kanal ins Gehirn bahnte. Erst speichert er nur Eindrücke, Stimmen, Wörter, Urteile. Sie erklingen in dem Heranwachsenden wie ein auf Jahrhunderte angelegtes Konzert von John Cage. Von Jahr zu Jahr erklingt ein neuer Ton im inneren Halberstädter Dom des Knaben, erzeugt eine tiefere Resonanz, ermöglicht ihm, sein Anderssein wie ein vergleichendes Register zu verfeinern. Welche Rolle er selbst, welche seine Zukunft darin spielt, ist nicht ausgemacht. Das Coming-of-age bebrütet in ihm wie ein Treibhaus den Fluchtinstinkt. Die Welt, die ihn hervorgebracht hat, wird ihm immer fremder. Je fremder sie ihm wird, desto genauer gelingt es ihm, sie zu beschreiben. Als sei in seinem Inneren ein geborener Verräter am Werk. Allerdings ein Verräter, der eine den anderen verborgen bleibende Wahrheit ausspricht. Freiheit scheint gleichbedeutend mit Flucht zu werden. Das erzählt der Autor, als verfolgte er das Ziel, eine bahnbrechende Einsicht des Zürcher Psychoanalytikers Fritz Morgenthaler in einen Entwicklungsroman zu verwandeln. Morgenthaler veröffentlichte Ende der 70er Jahre im Kursbuch und in der Zeitschrift Psyche drei Aufsätze darüber, wie wichtig es für Schwule sei, ihre Autonomie auszubilden. Im Unterschied dazu scheinen Heterosexuelle sehr viel stärker auf Identität zu setzen.

Ich bitte um Nachsicht, wenn ich nicht nur aus anekdotischen Gründen an dieser Stelle ein etwas längeres Zitat aus einem Aufsatz Morgenthalers vortrage:

Würden die Homosexuellen als eine homogene Gruppe auftreten, wirkten sie so, als würden sie einen gefährlich hohen Grad an Autonomie verkörpern, so dass ein Funke genügte, der von ihrer Sexualorganisation auf die Umgebung überspränge, um das Pulverfass gestauter Aggressionen in der jeweils herrschenden Gesellschaft zur Explosion zu bringen. Unbewusst wirken sie vielleicht so, aber sie wissen es nicht. Die potentielle Bedrohung bleibt Illusion. Sie wirkt auf die Homosexuellen zurück, die oft von Verfolgungsängsten und paranoischen Befürchtungen geplagt sind. Es bedarf eines weittragenden Prozesses, um die Angst bewusst zu machen, die daher kommt, dass die Umgebung sie als Gefahr erlebt. Wenn es dem einzelnen oder ganzen Gruppen gelänge, dieses Bewusstsein auszubilden, wäre wahrscheinlich nicht eine Umformung der Gesellschaft, sondern ein besseres Selbstverständnis der Homosexuellen zu erwarten, wodurch der Einfluss, den sie auf ihre Umgebung ausüben, in vieler Hinsicht revolutionärer wäre, als es vielleicht den Anschein hat. (Fritz Morgenthaler, Homosexualität. Qmram Frankfurt 1984)

Nun bin ich selbst, nach manchen politischen Häutungen, weit davon entfernt, in der historischen Serie fehladressierter revolutionärer Subjekte ein weiteres in uns selbst wahrzunehmen und uns mit einer historischen Mission zu überlasten. Ich singe viel lieber ein anderes Lied. Jeder schwule Mann, jede schwule Frau (ich beziehe mich hier auf Carolin Emckes Buch) formt im eigenen Leben eine permanente Revolution, in steter dissonanter Resonanz auf die Welt, in der wir leben. Wir können hinter das Empfindlichsein nicht zurück, ohne uns selbst zu verraten.

Lob des Verrats. Über Alan Turing

Das über Jahrhunderte überlieferte Leitmotiv der Turings lautete: Audentes Fortuna Juvat (Den Wagemutigen hilft das Glück). Gezeugt wurde Alan Turing im indischen Chatrapur, im Herbst 1911. Geboren wurde er im Paddington Hospital. Erste Jahre seiner Kindheit lebte er bei einer Pflegefamilie in der Nähe von Hastings, in einem Haus am Meer, während seine Eltern in Südindien lebten. Einmal ermahnte ihn seine Mutter, bevor sie wieder nach Indien fuhr: „Du wirst ein braver Junge sein, nicht wahr?“ Und Alan erwiderte: „Ja, aber manchmal werde ich es vergessen.“

Der kleine Alan erfindet für das Schreien der Möwen (die bekanntlich alle Emma heißen) das Wort „quockling“. Sein Kindermädchen rühmt die Intelligenz des Kleinen und „dass man nichts vor ihm verbergen konnte“. In seiner Schule spottete man in einem Lied über ihn, dass er beim Hockeyspielen die Gänseblümchen beim Wachsen beobachtete. Er habe das schnelle Laufen im Sport gelernt, um nicht vom Ball getroffen zu werden. Früh zeigt sich die Begabung für Mathematik, für Algebra und Geometrie, die Überführung von etwas Besonderem in das Allgemeine von Gesetzen. Seine Eltern zeigten sich besorgt, als der Zeitpunkt für den Eintritt in eine Public School gekommen war. Welche Schule würde am besten für einen Jungen sorgen, dessen Hauptinteresse Experimente mit schlammigen Marmeladengläsern im Kohlenkeller waren?

Im zarten Alter von 15 Jahren entdeckt er in einer trigonometrischen Arbeit eine inverse Tangensfunktion. Ist das nicht ein wunderbares Vor-Bild für sein Interesse an „verkehrten Berührungen“? Andrew Hodges´ Biographie lese ich wie einen großen Roman von Alan Hollinghurst, namentlich den jüngsten: The Stranger´s Child. Hollinghurst erzählt vom Aufwachen und Aufwachsen in einer untergehenden Welt. Das Triebleben seiner Protagonisten formt Epen unvergesslicher inverser Tangenten. In diesem Erzählen entsteht das Bild einer verlorenen Welt als dem Raum für das eigene Erwachen. Nicht die Abkehr von Regeln, sondern die Erfindungskraft, sie zu umgehen, bezeugt sich darin, mit welcher Wehmut Hollinghurst verlorene Zeit wiederfindet. So beschreibt aus einer ähnlichen Haltung heraus Andrew Hodges Unordnung und frühes Leid des heranwachsenden Alan Turing. Die Liebe zur Mathematik, ja sogar  für das Universum, das er in eigenen nächtlichen Bastelarbeiten reproduziert, findet ihr Echo in dem Inversen seiner Freundschaften und erotischen Verlockungen.

Ohne in einen Wettstreit mit Mathematikern und Informatikern eintreten zu wollen, lese ich den Turing-Test wie eine Analogie: In dem Test führt ein menschlicher Fragesteller über eine Tastatur und einen Bildschirm ohne Sicht- und Hörkontakt mit zwei ihm unbekannten Gesprächspartnern eine Unterhaltung. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Beide versuchen, den Fragesteller davon zu überzeugen, dass sie denkende Menschen sind. Wenn der Fragesteller nach der intensiven Befragung nicht klar sagen kann, welcher von beiden die Maschine ist, hat die Maschine den Turing-Test bestanden, und es wird der Maschine ein dem Menschen ebenbürtiges Denkvermögen attestiert.

Wir können den Turing-Test auch wie eine Versuchsanordnung für den empirischen Nachweis von Heteronormativität lesen, als den blinden Fleck in dem Reflektionsvermögen entsprechend normierter Menschen. In der metaphorischen Unterscheidung der künstlichen Intelligenz von der menschlichen erweist sich ausgerechnet die vermeintlich menschliche als maschinelle, indem sie Denken und Fühlen in gewissen normativen Grenzbereichen dissoziiert und Regeln absolut setzt und sich damit der egalitär operierenden Maschine als unterlegen erweist. Die Beschreibung des ebenbürtigen maschinellen Denkvermögens lese ich wie eine Utopie, an die die Menschen eines Tages vielleicht noch Anschluss finden könnten.

Alan Turing hat in Bletchley Park entscheidenden Anteil an der Entschlüsselung der deutschen Enigma. Das war die Verschlüsselungsmaschine für den Funkverkehr der Wehrmacht. Auch hier bitte ich um Nachsicht, wenn ich die mathematischen und militärtechnischen Voraussetzungen dieser Geschichte nur in metaphorischer Form erwähne. Das mathematische Universalgenie, der Bastler eines eigenen Universums, findet eine mathematische Methode der Weltbeschreibung, die die unendliche Vielfalt und Diversität der Welt in eine unendliche Zahlenreihe überführt. Diskriminierungsfrei unterscheiden. Die genaue Deskription und damit die Dialektik des Ver- und des Entschlüsselns können wir deshalb auf einer Metaebene auch als Utopie verstehen. In dieser Utopie gelten nur mathematische Gesetze, diskriminierungsfrei, und damit zugleich auch frei dafür, Unterschiede zu erfassen, denn andernfalls würde sie versagen.

So wie Hinrich von Haarens Erzähler als ein Alien im norddeutschen Marschenland aufwächst und die Codes der bürgerlichen Welt, diesen morosen Kerker für einen wie ihn registriert, so können wir Turings Biographie lesen wie die Ausbildung eines Coders. Erst sieht er sich selbst den Codes einer Welt unterworfen, die das eigene Leben bedrängt und einem Strafgesetz unterwirft, das ein Leben im Verborgenen, ein Leben in Andeutungen, ein Leben in Maskerade erzwingt. Dann kommt die nationale Stunde der Bewährung, in der das mathematische Genie das Vaterland rettet. Was bisher bloß als Drama seinen Lauf genommen hatte und den Helden zum Triumph geführt zu haben schien, endet als schmähliche Tragödie. Der Retter des Vaterlands wird wegen seiner Homosexualität verurteilt und chemisch kastriert. Darüber fällt er in eine tiefe Depression und stirbt an einer Cyanidvergiftung.

Das Leben und das Werk Turings lese ich wie eine epische Metapher über die Entzifferbarkeit einer enigmatischen Welt. Es gibt in dieser Welt Geheimnisse diverser Ordnungen und Unordnungen. Turings Leben wirkt wie ein Prozess des Verstehens feiner und nicht so feiner Unterschiede, wie ein Ausweichen vor dem Ungenügen dieses Verstehens in eine höhere Ordnung des Verstehens und damit die Begründung einer anderen Beschreibbarkeit der Welt. Das Beschreiben birgt aus der Perspektive der Evolution das Weiterschreiben, ja auch ein Umschreiben in sich.

Der Codebreaker der Enigma war ein dem britischen Strafrecht unterworfener Codebreaker. Die Königin hat Alan Turing im vergangenen Dezember einen „Royal Pardon“ gewährt. Auch diese späte Genugtuung bleibt ambivalent. Wir sind offenkundig noch nicht so weit, die eigene Einsicht, dass das damalige Strafrecht ex tunc nichtig ist, politisch durchzusetzen. Indem die Königin im Fall Turings eine gnadenvolle Ausnahme zu machen scheint, können wir den Vorbehalt, diesen Pardon allen nach dem Gesetz Verurteilten zu gewähren, als Vorzeichen der Reversibilität der heutigen Rechtslage verstehen.

Wer in der Figur des Hegelschen Pendels zu denken gelernt hat, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, in welche Richtung es nach Jahrzehnten des Fortschritts zurückschlagen kann. Kürzlich gab der Herz Jesu Sozialist Norbert Blüm eine Vorstellung von seiner Idee des Pendelausschlags in die andere Richtung, indem er den heutigen Stand der unzureichenden Gleichstellung als eine vorübergehende Zeitgeist-Episode bezeichnete. Es reicht nicht aus, Norbert Blüm deswegen Geistgeiz vorzuwerfen. Es scheint auch nicht abwegig, dass in Folge einer dramatischen Zuspitzung der europäischen Krisen in Deutschland und in Frankreich neue politische Mehrheiten entstehen, die diesem Geistgeiz Folge leisten und unter der Formel „Travail, Famille, Patrie“ revidieren, was wir für dauerhaft erreicht halten.

Es wäre kein Wunder, wenn unter der Maske des Sozialversicherungsrechts für Alleinstehende gleichwelcher sexuellen Orientierung erhöhte Beitragssätze zu allen Sozialversicherungen festgesetzt würden. Ich bin nicht unbedingt ein begeisterter Erzähler von Distopien. Aber es gehört nur wenig Phantasie dazu, um sich vorzustellen, wie schnell die Logik steuersparender Zahnärzte für sozialpolitische Maskeraden nachgeahmt werden könnte – für eine schöne neue Welt von Ehepaaren mit zweifelhaftem Triebschicksal und unglücklichen Kindern.

Small Town Boy

Bevor ich auf Falk Richters Stück eingehe, möchte ich eine Passage aus Roberto Bolaños Roman Die wilden Detektive zitieren. In dieser Passage trifft der viszeralrealistische Dichter Ernesto San Epifanio eine erstaunliche Serie von Unterscheidungen. Er unterscheidet in der Literaturgeschichte zwischen echten Schwulen, Tunten und Schwuchteln, Verrückten, Tatterschwuchteln und Schmetterlingen, Milchfaunen und hellenistischen Zwergtunten. Für ihn gebe es nur einen einzigen wahrhaft schwulen Dichter, ein echter Schwuler aus den verschneiten Steppen, ein Schwuler von Kopf bis Fuß: Welimir Chlebnikow (dessen deutscher Übersetzer Peter Urban im vergangenen Dezember gestorben ist).

Mit den Differenzierungen Bolaños haben wir nur ein Register für die Vielfalt von Bezeichnungen im Mikrokosmos der Literaturgeschichte. Wieviel mehr Register brauchen wir für Mechatroniker, für Fischer, für Architekten, für alle anderen Spezialitäten? Mit Abkürzungen wie lgbti* ist es nicht getan, ein missverstandener Kurzschluss einer in Kategorien des Identitären zurückfallenden Politik.

Ihr kennt das Lied von Jimmy Somerville: (meine Übersetzung)

Du haust am Morgen ab

Mit allem was du hast

in einem kleinen schwarzen Koffer

Stehst du auf dem Bahnsteig

Wind und Regen

Auf dem traurigen verlorenen Gesicht.

Mutter wird nie verstehen

Warum du gehen musstest

Die Antworten, nach denen du suchst

sind nicht zuhause zu finden.

Die Liebe die du brauchst

gibt es zuhause nicht. Nie.

Lauf weg, hau ab.

Rumgeschubst und getreten

Immer so ein Alleiner

Warst du der

über den sie tuschelten

wie sie dich herabsetzten.

Und wie hart sie es auch versuchten

Dich zu verletzen, bis du weintest

Schriest du nicht zurück

Nur zu dir selbst.

Nur zu dir selbst

Lauf weg, hau ab.

Weine Junge, weine

Du haust am Morgen ab

Mit allem was du hast

in einem kleinen schwarzen Koffer

Stehst du auf dem Bahnsteig

Wind und Regen

Auf dem traurigen einsamen Gesicht.

Lauf weg, hau ab.

Was passiert in Falk Richters Stück? Was liegt in diesem Lied für eine Sprengkraft? Reicht es aus, es in die fixe Rubrik der Homophobie zu packen und damit still zu stellen? Denn das ist mein erster Eindruck von der bisherigen Resonanz auf das Stück. Die Kritiker machen es sich zu einfach, wenn sie das Stück aus der radikalen Absurdität zurück in das prähistorische sozialrealistische Drama wuchten, um so der Irritation zu entkommen.

Worin besteht sie? Was erzählt Richter? Was höre und sehe ich am Sonntagabend nach der Premiere?

Sein Stück beginnt mit einer Gegenwartsszene, die jeder von uns kennt. Das Versagen des eigenen Sprechens, des Suchens nach Worten, wonach wir suchen. Können wir so genau, wie unser Verlangen es verdient, dafür Worte finden, die mehr als nur der vergänglichen Sehnsucht nach einem Abenteuer gerecht werden? Immer bleibt da etwas Anderes, nicht Ausgesprochenes, immer steht da noch eine andere Verlockung an der falschen Stelle, statt nun und jetzt zu ihm oder zu ihr zu sagen, komm mit oder ich zu dir, oder lass uns unter den Regenbogen ziehen.

Die Sehnsucht nach dem „Verweile doch, du bist so schön“ erzwingt eine performative Kraft, die vielleicht nicht jeder drauf hat, ohne dass dadurch der Druck nachließe.

Jeder Akt entwickelt sich zu einem Drama des Aushandelns, des Verfehlens der eigenen Wünsche oder der Wünsche des anderen. Was passiert, wenn die Suche nach dem kleinen oder großen Glück, wenn die kleinen Tode ihr Ziel aus den Augen verlieren, wenn sich die Suche verselbständigt? Wenn das, was zwischen den beiden stattfindet, nurmehr in abgekauten Worten vorgegaukelt wird, wenn jede Begegnung sich als zweite Wahl, als Abklatsch, als schale Wiederholung entpuppt? Was erzählt der Auftakt des Stücks über eine Welt, in der persönliche Suchanzeigen nach dem nächsten kleinen Glück mit solchen Sätzen enden wie „Tunten, Rechtswichser, Linkshänder, Brillenträger, Opas, Bären, Kleine, Große, Abba-Fans zwecklos?“ Ist in der Aufzählung dessen, was wir nicht suchen, ein Ziel erkennbar? Was erzählt das über den Selbsthass in einer Welt, in der es mehr als genug Hass auch ohne den gibt, den wir in uns gegen uns entdecken?

Es folgt ein Zwischenakt über das kleine Glück und Elend der heteronormativen Welt, allerdings mit einer boshaften Volte: der Traum vom unbeschwerten Glück in ähnlich unwahrer Warenwelt. Mich erinnert das Stück in diesem Augenblick an Bernard-Marie Koltès, an den Film von Patrice Chéreau: L´Homme blessé, an das röhrende Saxophon Albert Aylers.

Und dann sehen und hören wir das simultane Surfen, das weiße Rauschen der Social Media, wo seid ihr alle (wo bin denn ich?) Wie verselbständigen sich Abgabetermine in Traum- oder Todeszonen, welche Restideen hören wir da von trivialen Begegnungen, schnellem Sex und dem Überdruss, wenn die ersten Übergriffe die eigene Autonomie bedrängen? Wie schält sich aus dem Hangeln von Sekunde zu Sekunde die ungestellte andere Frage heraus: Wie soll ich leben?

Es folgt ein Phantomselbstbild, warum Liebe weh tut. Warum nie ein Ja zu hören ist auf Wünsche in einer Welt, in der das Neinsagen als letzte Insel der Freiheit verstanden werden könnte.

Warum erkaltet die Liebe? Welche Stimmen mischen sich ein? Warum? Welche Nebengeschäfte überwuchern das, was wir als Liebe bezeichnen?Auch diese Szene mit Niels hat nichts mit Homophobie zu tun, sondern erzählt von den Handicaps der Liebe in einer durchgetakteten Welt ewig verlängerter Postadoleszenz.

Die verschwimmenden Identitätsgrenzen und ihr Ersatz durch Ersatzprojekte, ihr kennt das, Dachstühle, Tauchen, heute hier, morgen da, Fischessen bei Jens Spahn oder David Berger, plötzlich bricht da eine andere Welt in den anfangs heterosexuell scheinenden Monolog, so weit weg sind wir alle doch gar nicht von einander entfernt, die conditio humana kennt mehr Gemeinsamkeiten als die kleinen Unterschiede. Was kennzeichnet die? Die Omnipräsenz des Lebens der Anderen führt auch ohne Stasi dazu, dass unser Leben zu einer einzigen unablässig dem Vergleich unterworfenen Großübung zusammenschnurrt.

Erinnert euch an das Lied: Small Town Boy. Es gibt kein Entkommen. Die kleine Stadt, der du eben erst entkommen bist, trägst du in dir selbst. Mach dich darauf gefasst, dass auch dein nächster Traum in die Binsen geht.

„ich bin irgendwie eingefroren in diesem teenagerkörper der immer älter wird aber sich auf der zeitachse nicht so richtig nach vorne bewegen will“ – das ist so ein Satz, der dich auf deinem Sitz auf der Empore einfrieren lässt.

Was meine Generation noch als Utopie-Idee ernst genommen haben mag, verwandelt sich in der konformistischen Konsumgesellschaft von heute (Pasolini hat sie früh erkannt) in einen „Waswärewenn“-Irrealis. Die Wahrnehmung des Anderen verkommt zu einem psychiatrischen Diagnoseschlüssel.

Immer wieder funken Traum und Trivialität des Alltags durcheinander. Die Figur des Möchtegern, das Sichselbsterheben der Erniedrigten, die sich die Position, in der sie sich tatsächlich befinden, nicht eingestehen. Aber es kommt etwas Neues hinzu: die visuelle Omnipräsenz der Pornographie, wie ihre Bilder in den Alltag hineinmorphen. Etwas Thanatoides kommt in den Blick, so wie Pynchon in Vineland es beschrieb, wenn du den geilen Sex erlebst, als wärst Du selbst Jeff Stryker oder dieser Joe Dalessandro.

In die hermetisch abgedichtet scheinende Welt wehen Realpartikel aus dem Anthropozän, ob es der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien oder das Menschenabschlachten in Ruanda ist, tut kaum etwas zur Sache. Wie sieht es aber tatsächlich aus, wenn der Punkt gekommen ist, an dem deine inneren Widerstände geschliffen sind und du keine Nachrichtensendung mehr sehen kannst, ohne in Weinkrämpfe zu verfallen? Was muss passieren, dass du die Welt wieder wahr-nimmst?

Erleben wir Episoden der Rückkehr in Familienverbände wie einst die Reisenden in unbekannte Welten: Hic sunt leones? Welche Normen gelten da? Welche Rücksichten? Welche Vorbehalte? Welche Vorbehalte erleben wir bei der Idee, den Partner das erste Mal den Eltern vorzustellen? Anatolien ist so weit weg wie Castrop-Rauxel oder Wanne-Eickel oder Meerbusch-Osterath.

Was versteht euer Vater nicht, was ihr zu verstehen glaubt? Oder ist das bloß ein Vorwand des nicht Verstehenwollens, des Nichtverstandenwerdenwollens? Und dann bricht wieder diese Exotik, dieser Eskapismus, diese Maskerade durch: dass der Jahresabschluss der Buchhaltung, die Schraubenlieferung an den Klempner deines Vertrauens unterkomplex chiffriert wird: „ich muss jetzt zum Probeshooting“ oder „ich muss doch morgen früh schon mit dem ersten flieger nach wales und araberhengste zureiten“.

Solange die Zahlen stimmen, Baby, träum weiter. Aber verlier dich nicht, hör auf damit, die Angebote der Gesellschaft zum Nennwert zu nehmen, unterscheide das Zutexten deiner Texte von dem, was sie noch mitteilen, Baby, es geht um das Teilen, verstehst du?

Liebe ist Utopie. Mit Sex an jeder Ecke kannst du lange danach suchen. Das Leben in den Netzwerken erinnert an die Wahrnehmungshäutchen von Lukrez. Sie verwehen im Netz. Das Sich-Verlieren im virtuellen Raum wird um so dramatischer, je trivialer und selbstverständlicher wir eintauchen. Wir entkörpern uns.

Wie ein Meteorit schlägt die Szene von Murat und Angie im Kanzlerinnenschloss ein. Politisch inkorrekt im Exzess. Nicht zitierfähig in Sprachpolizeikreisen. Monströs. Ehrlich. Die rohe unzensierte Seite ungezählter innerer Monologe, wie sie heute überall simultan ausgestoßen werden, wie sie aus jeder Pore sprießen. Eine emotionale Salve wie Célines emotive Metro, jede Atempause eine synkopische Ewigkeit, alles muss raus, der Dreck, die Sehnsucht, die Erniedrigung, der Hohn, die Maskerade.

„Und wenn ich um Gnade flehe, beschimpfen Sie mich als billiges deutsches Flittchen und sagen Sie ICH FICK DISCH KRANKENHAUS DU WEISSE DEUTSCHE OBERSCHICHTENSKLAVENFOTZE.“

Ihr merkt, was in dieser Szene los ist. Sie zeigt, was der Fall ist. Sie zeigt, was den Fall, die Fälle so alles überwuchert, was in den inneren Monologen für Filme abgehen, während wir die Contenance bewahren. Habt ihr schon mal zehn Räume fotografiert, die durch eine Telefonkonferenz verbunden sind? Was da abgeht?

Richter demontiert und remontiert, was der Fall ist, was zu Fall kommt. Er surft mit dem Surrealismus unserer Zeit, in dem mehr als nur ein Regenschirm und eine Nähmaschine auf einem Seziertisch zu einander finden. Unser Surrealismus überlässt nichts mehr dem Zufall, nicht alles ist möglich, sondern alles ist wirklich, ob es euch passt oder nicht.

Der „Frühling der Reaktionäre“ ist kein Regelbruch, sondern bringt zu Gehör, was der Fall ist, wie die Bilder aussehen, die uns durch den Kopf schießen, den Subtext, die innere monströse Wahrheit, die keiner hören will, schon gar nicht leitartikelnde Bratenrockspießer.

Das Stück reist mit uns in eine grell beleuchtete ewige Nacht. Wir erkennen uns selbst nur noch in Fragmenten, sehen die anderen dagegen überlebensgroß. Oder ist es umgekehrt? Nicht mehr das Pathos einer conditio humana, sondern ein politisch im Exzess unkorrekter Blick vom Überwachungsturm auf das, was hier los ist.

Ausblick: Lob der Differenz

Es wäre völlig absurd, dagegen zu protestieren. Die vielen Stimmen, die Richter hörbar macht, mögen unsere sein oder nicht, es geht nicht um Abstand. Wer wären wir, wenn wir nach diesem Stück ins Biedermeier da draußen zurückkehren und nur irgendwie indigniert aus der Wäsche schauten? Aus welcher denn?

Wenn es eine unverfallbare Kraft in uns allen gibt, dann ist es die lebensgeschichtlich eingeborene erinnerbare Kraft: Differenzen wahrzunehmen. Wir verkörpern Differenz. Nicht nur in den Augen der anderen. Auch und besonders im eigenen Erfahren. Wo diese innere Stimme verstummt (wie bei Lars von Triers Bess in Breaking the Waves), laufen wir wie richtungslos durch die Welt, gehen wir verloren. Sie macht uns kenntlich für uns selbst.

Darauf kommt es an. Denn aus dieser Erfahrung nähren wir die Sehnsucht nach Gleichheit. Wir beglaubigen sie durch jede einzelne Geschichte. Wie aber begegnet unsere Sehnsucht nach Gleichheit (in Kenntnis der Differenzen, im Lob der Unterschiede) der Angst vor der Gleichheit? In welcher inneren Beziehung stehen die drei großen Ziele der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit?

Die Angst vor der Gleichheit nimmt ihre aggressiven Impulse aus verweigerter Freiheit. Denn wenn wir die Differenzen verkörpern, wenn unsere Sehnsucht nach Autonomie den anderen Angst einflößt, dann liegt das auch daran, dass wir in jedem Augenblick unseres Lebens die Idee der Freiheit verkörpern. Wir haben uns die Freiheit genommen, Differenzen sichtbar zu machen. Wir zeigen, dass Freiheit möglich ist.

Die Angst vor der Gleichheit ist eine Maske der Unfreiheit. Unter den Massenprotesten in Frankreich wuchs sie wie eine Metastase in Gesichter des Hasses. Die Maske wächst ins Fleisch und wird Gesicht, schrieb Thomas Brasch.

Die Differenz zu suchen, zu finden, zu bezeugen und auszuhalten, verstehe ich schließlich als das beste Gegengift gegen die Gleichgültigkeit. Wir sind empfindlicher, als wir oft zugeben.

Die darin liegende Kraft ist unermesslich.