Kulturkampf? Ein Zeitalter besichtigt sich

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Der Weg zur Akademie der Künste ist in diesen frühen Novembertagen weiträumig vom öffentlichen Verkehr abgeschnitten – gesäumt von Sperrgittern, die den Eindruck eines Belagerungszustands erzeugen. Fast niemand aber ist an diesem frühen Abend unterwegs.

Die neue Führung der Berliner Akademie der Künste unter Präsident Manos Tsangaris und Vizepräsident Anh-Linh Ngo nimmt an Fahrt auf. Am 4. November setzte sie „Kulturkampf?“ – mit Fragezeichen – auf die Tagesordnung. Ihre Beweggründe: Streit werde nicht mehr als Suche nach dem besseren Argument verstanden, sondern als Kampf um Deutungshoheit. Es bildeten sich „Lager, die nicht mehr überzeugen, sondern nur noch besiegen wollen.“ Walter Benjamin hat dazu trocken bemerkt, Überzeugen sei unfruchtbar (Einbahnstraße 1928).

Nun steht aber nicht das Überzeugen auf dem Programm. Es geht um rhetorische und mediale Strategien. Wer prägt mit welchen Begriffen die Debatten? Rechte Milieus scheinen seit einigen Jahren in diesem Wettstreit die Nase vorne zu haben. Das Fragezeichen ist begründet. Der Rückgriff auf einen Begriff aus der Geschichte des vorletzten Jahrhunderts unterschiebt der Gegenwart einen Wechselbalg. Die Idee der „Deutungshoheit“ wird der tatsächlichen Vielstimmigkeit politischer Diskurse kaum gerecht. Wer könnte sie beanspruchen, wer sie durchsetzen, wer sich wie dagegen wehren?

Die Akademie der Künste hat mit ihrer Veranstaltung am vergangenen Dienstag einen wertvollen Beitrag zum Verständnis kultureller und politischer Konflikte unserer Zeit geleistet. Sind Elias Canetti (Masse und Macht) und Norbert Elias (Über den Prozess der Zivilisation) dabei behilflich, politische und kulturelle Konflikte unserer Zeit besser zu verstehen?

Der Leipziger Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich gibt zur Einleitung einen wertvollen Hinweis zum besseren Verständnis der Begriffsverwirrung. In den „Sozialen Medien“ gehe es darum, „mit Content viral zu gehen und damit Diskurse zu beherrschen“. Algorithmen verstärken, was viel kommentiert oder positiv bewertet wird. Messbare Interaktions-Intensität relativiert den Wahrheits- oder Geltungsanspruch. Was viel geliked wird, kann doch nicht falsch sein?

Bilder, Slogans, Witze und „Memes“ sind dabei behilflich, diskursive Hoheit durchzusetzen. Galt es für Norbert Elias noch als Ausdruck für den Prozess der Zivilisation, die Zeitspanne zwischen Reiz und Reaktion auszudehnen, zielt die Interaktions-Logik der Sozialen Medien darauf, diese Zeitspanne wieder zu minimieren. Vorwärts und schnell vergessen! Der zweite Wahlsieg von Donald Trump hat diesen Prozess noch einmal beschleunigt. Die Idee der Zivilisation selbst sieht sich auf die Probe gestellt. Barbarei scheint nur noch einen Katzensprung entfernt. Im Oval Office bezeichnet der US-Präsident politische Gegner als bad person. Carl Schmitt, Adolf Hitlers Kronjurist, wäre begeistert, wie geschwind, mit welch spielerisch anmutender Leichtigkeit Feinde zu bestimmen und diskursiv auszuschalten sind.

Das Rollenbild der modernen emanzipierten Frau sieht sich herausgefordert durch das Genre der „TradWives“. Was anfangs bloß kulinarisch oder irgendwie scheinbar parodistisch schien, etwa am Beispiel der handwerklich perfekten Herstellung von Butter und Schokolade, dehnt sich aus zu einer perfekt inszenierten Ding-Kultur. Dieser Prozess hat sich in den Jahren der Corona-Pandemie erheblich beschleunigt. Alles Häusliche feierte plötzlich Hochkonjunktur. Heinz Rühmann hätte das „hübsch hässlich“ genannt. Zurück verbannt in die häusliche Höhle erblühen dort Rollenmuster vergangen geglaubter Zeiten. Nun darf die moderne Frau ihrem Mann wieder untertan sein? Das Genre ist zu einem Monster geworden. Gegenwehr steht unter dem Verdacht, die „natürliche Ordnung zu zerstören“. Persiflagen auf das Genre haben nicht dazu geführt, dass das Weltbild der „Tradwives“ in Frage gestellt worden wäre, sie haben es eher bestärkt.

Das ist die Ausgangslage. Die unterlegene Seite sieht sich dem Spott ausgesetzt, ihr mangele es an durchsetzungsstarken memes. Elon Musk, der weltweit reichste Mann unserer Zeit, antwortet auf diesen Befund höhnisch mit zwei Buchstaben: fr – „for real“. Einst hieß das „alea iacta est“ – die Würfel sind gefallen.

Wer darauf mit einer rhetorischen Analyse in der Tradition des einstigen Akademie-Präsidenten Walter Jens zu antworten versuchte, hätte damit schon vor den ersten Worten verloren. Wo oben und wo unten ist, wo vorne oder hinten, wer die Nase oben oder den Kopf unten hat, das gibt keine hinreichende Auskunft mehr über den Stand der Diskurse. Die irdische Schwerkraft scheint erloschen zu sein. Körper und Masse ziehen sich nicht mehr an, sondern scheinen sich abzustoßen. Wohin die Reise geht, scheint ungewiss. Die Produktion von memes schießt in die Höhe und bringt viele Menschen zu einem Lachen, dem ein stimmloser Schrecken innewohnt.

Das Internierungslager für abzuschiebende Ausländer heißt in den Vereinigten Staaten von Amerika nun (spaßeshalber ?) Alligator Alcatraz. Der Name erinnert an den Film Escape from Alcatraz. Clint Eastwood spielt darin einen Kriminellen, der schon mehrfach aus anderen Gefängnissen ausgebrochen war. Von Alcatraz aber ist noch nie ein Sträfling entkommen. In diese Erzählung wird mit „Alligator Alcatraz“ eine Steigerung eingeführt, die Hohn mit Schadenfreude kurzschließt. Wer darüber lacht, schlägt sich auf die Seite der Barbarei und erklärt das menschenfressende Krokodil zum Erfüllungsgehilfen des Unrechtsstaats. Das Wortspiel ästhetisiert eine Kumpanei des Schreckens.

Wie wäre darauf zu antworten, ohne sich der überwältigenden Methoden zu bedienen? Wie kann der Prozess der Zivilisation sich dagegen wappnen, ihn kurzzuschließen? Wie kann das politisch interessierte Publikum sich wieder zu Akteuren eigenen Rechts aufschwingen und seine Stimmen hörbar machen? Das sind die Fragen unserer Zeit, auf die Antworten noch zu finden sind.