Willy Habeck

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Heute Morgen las ich beim Frühstück Alexander Osangs Habeck-Reportage, es kam mir vor wie eine Zeitreise auch durch meine Geschichte – zurück in das Jahr 2009. Nach dem Tod meines französischen Schwagers hatte ich meine Wohnung in Berlin an einen amerikanischen Gastprofessor untervermietet und war bei den zwei Hunden im Weingut am Rand der Cevennen gelandet. Am Tag von Barack Obamas Amtseinführung begann mein Blogprojekt unter dem Titel „Reden für eine neue Welt“ (depubliziert, erscheint bald wieder).

Der Gegensatz hätte kaum größer sein können, vom Ende der Welt auf eines ihrer Zentren zu schauen in dem Versuch zu verstehen und Unterschiede zwischen den politischen Kulturen herauszuarbeiten, das Bräsige in Deutschland mit dem hohen Ton des Optimismus in einer von Konflikten kochenden politischen Kultur (cf. Tea Party, Hofstadter zur paranoiden Kultur) zu vergleichen.

Kein Tag verging ohne Blogeintrag. Bald trug mir das ein Angebot aus Düsseldorf ein. Der kürzlich gestorbene Handelsblattredakteur Martin Tofern bat mich um eine Wahlkampfkolumne und ich lieferte wöchentlich. Deutschland ist vom Rand der Cevennen vielleicht genauer zu beschreiben als aus dem Blickwinkel einer Betriebsnudel.

Dann kam eine sehr ehrende überraschende Einladung aus Bremen. Ich sollte zusammen mit Tom Buhrow, Lothar Probst, Ulrich Sarcinelli darüber diskutieren, was Willy Brandt und Barack Obama hatten, was unseren Politikern fehlt. Zur Vorbereitung hatte ich (offenbar als einziger) die Erinnerungen Willy Brandts wieder gelesen. Brandt zitierte darin Julius Leber, der 1933 in seiner Gefängniszelle geschrieben hatte: „Große Führer kommen fast immer aus dem Chaos, aus der richtigen Ordnung kommen sie selten, aus der Ochsentour nie.“

Dieses Zitat hat seither bei mir in der Wiedervorlage geschlummert, aus der ich es nun mal wieder heraushole, um einen weiteren Vergleich zu ziehen. Robert Habeck ist ein Wiedergänger Willy Brandts, gesegnet mit einem ähnlich lübischen Kammerton der Nüchternheit, die bei ihm noch etwas auf sich warten lässt, aber infolge seiner vorangegangenen Karriere als Übersetzer und Autor in der Lage, den richtigen Ton zum richtigen Zeitpunkt in einer dafür geeigneten Lage anzustimmen. Es ist ein absoluter Kammerton, der sich dem Ernst der Lage gewachsen zeigt, der mitreißen kann, ohne zu überwältigen, der einen Weg zu den inneren Stimmen des politisch interessierten Publikums da draußen bahnt, ohne Heilsgewissheit, gewiss auch ohne Sieg Heil Allüren, aber mit dem Optimismus, auch in schwierigsten Zeiten an den Herausforderungen zu wachsen und sich ihnen zu stellen.

Keine Eloge hier, nur ein paar Erinnerungen, sie klingen an, wenn die Zeit sie herauf beschwört. Heute morgen las ich den kurzen Eintrag von Franz Kafka aus seinem fünften Oktavheft:

„Hoffnungslos führ in einem kleinen Boot um das Kap der Guten Hoffnung. Es war früh am Morgen, ein kräftiger Wind blies.

Hoffnungslos steckte ein kleines Segel auf und lehnte sich friedlich zurück. Was sollte er fürchten im kleinen Boot, das mit seinem winzigen Tiefgang über alle Riffe dieser gefährlichen Gewässer mit der Gewandtheit eines lebendigen Wesens glitt.“