Vorbemerkung: Ich werde hier gelegentlich an Beiträge von mir erinnern, die sich gut gehalten haben.
Heute fang ich damit an, indem ich an meine Besprechung des Romans „Die Eignung“ von Michael Sollorz in dem Magazin front im Herbst 2008 erinnere.
„Wir besuchen einen Toten. Einverstanden? Erbitte kurze Bestätigung.“ Michael Sollorz liebt es knapp und klar. Von der U-Bahn-Station in Friedrichshain zum Friedhof der Parochialgemeinde sind es wenige Schritte. Dort, in einer der schmalen seitlichen Gräberreihen, führt er mich zum Grab des großen Entschlafenen. Erstaunlich, wie klein das Grab ist. Der Feldstein, braun-rötlich, verwittert. Die Wiederauferstehung des RMS vor einer staunenden Welt lässt nicht mehr lange auf sich warten. Die Zeitspanne vom Verwittern zur Unsterblichkeit wird überschaubar. Im Frühjahr 2009 ist es so weit. Dann erscheint im Aufbau Verlag die Biographie, mit der Matthias Frings die Wiedergeburt des Kultautors einleitet.
Im Halbschatten des kühl übersonnten Frühherbstnachmittags sitzen wir auf einer Friedhofsbank und kommen ins Gespräch. Der Titel des Romans wirft Fragen auf: Ist „Die Eignung“ ein Befund, das Ergebnis einer Musterung und Prüfung? Ist es die Zueignung oder Widmung? Oder auch so etwas wie eine Aneignung? Wiedergefundene Geschichte. Es schwingt wohl alles mit. Unser Besuch am Grab von Ronald M. Schernikau legt die Idee einer Widmung nahe – im Umfang von 156 Druckseiten. Wie ein Komet war Schernikau 1980 mit seiner „Kleinstadtnovelle“ am Horizont erschienen und als kommunistische Tunte in den Wendejahren verglüht. Immer wieder befällt Sollorz das Schaudern, wenn er an Schernikaus Auftritt auf dem letzten Schriftstellerkongress der untergehenden DDR denkt: „Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, die der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt.“ „Die ungeheure Diskrepanz des Wissens zu dem Nichtwissenwollen“ erschüttert Sollorz bis heute.
Wie er zu dem Stoff gekommen sei – oder der zu ihm? Den Anfang nahm es als Tagebuch in grünen Schulheften, sorgsam im Stahlspind der Polizeikaserne verschlossen, ehe er sie von dort an einen sicheren Ort hinaus schmuggelte. Michael Sollorz hat in Basdorf bei der Bereitschaftspolizei seinen Wehrersatzdienst abgeleistet. Logistische Hilfstruppendienste für die in der Nachbarschaft stationierten Truppen des großen Bruders, wenn dem mal wieder ein Deserteur abhanden kam. Der Blick unter der Plane des W50-Transporters auf die Szenerie einer Menschenjagd hat sich eingeschrieben. Nach 20 Jahren hat er die grünen Schulhefte mit den Tagebuchnotizen wieder gelesen und mit dem Roman angefangen.
In den Einsatzplänen dieser Polizeitruppe für den Ernstfall hätte die Eroberung Westberlins gestanden. Lars Hagner, dieser einsame Schläfer, dem sein Kommando, seine Bestimmung, seine Welt, die DDR, abhanden gekommen war, bereitet sich eisern und unermüdlich auf den Tag X vor: wenn ihn endlich das Kommando erreicht, als Schläfer in den Wachzustand zu wechseln und zu tun, wozu er als Kämpfer ausgebildet worden ist.
Drill und Selbstdisziplin sind ihm in Fleisch und Blut über gegangen. In weniger als drei Minuten aus dem Tiefschlaf gerissen einsatzbereit. 1,5 km Schwimmen auf der Schnellschwimmerbahn unter dem wohlwollenden Blick des Schwimmeisters. Nachtmärsche. Tagsüber die Routinen eines unscheinbaren Hausmeisters einer Wohnungsbaugenossenschaft. Wenn er wieder einen toten Mieter auffindet, gibt ihm die Verwalterin frei: „Sie haben aber auch immer ein Glück“, stöhnt sie ins Telefon. Hinter der Lakonie lauert das befreiende Lachen. Überhaupt ist die Lakonie dieses Textes selbst so etwas wie ein ästhetischer Flecktarnanzug. Mal wieder beweist sich die technische Meisterschaft der Schüler des Leipziger Johannes R. Becher Instituts, in dem Michael Sollorz als externer Student in den späten 80er Jahren dem Paradiesvogel Ronald M. Schernikau wieder begegnete. Schon vorher waren sie sich einmal in die Arme gefallen, nachdem er dieses Mädchen mit Schnurrbart und geschmeidigen Gliedmaßen auf dem Sofa von Schriftstellerkollege Ulrich Berkes erblickt hatte.
Der ästhetische Flecktarn eines Schläferberichts funktioniert wie nach einem Gesetz aus der Feder des Versicherungsjuristen Franz Kafka. Der stumpfe Schläfer wandert nach dem Fall der Mauer durch die Hände und Betten zahlreicher Liebhaber. Sein kalter Blick auf die schwulen Partisanen der Jagd nach dem schnellen flüchtigen Glück ist so Furcht erregend wie begeisternd. Selten nur ist die Idee der Freiheit ohne Zuhilfenahme der großen Philosophen so scharf dekonstruiert worden, so kläglich in die Reste von Spuren zusammen geschnurrt.
Überhaupt die Philosophen: Auf die Frage nach seiner Idee von Glück erzählt Sollorz von dem zerfledderten Schopenhauer-Band seines Vaters: „Es gibt nur einen angeborenen Irrtum, und es ist der, daß wir da sind, um glücklich zu sein.“ Zur Idee der DDR als einer Sammlung von kulturellen Nischen gehört offenbar auch die selbstbestimmte Bereitschaft zu wunschlosem Unglück.
Der Leser des Romans fühlt sich in die Funktion eines gerichtlich bestellten Gutachters versetzt. Der Bericht des Schläfers scheint mitunter undiszipliniert zu werden: wenn nicht Vorhersehbares in den zerfaserten Alltag eindringt, wenn der Männerkörper Vorzeichen der Schwäche entdeckt, wenn er sich mit der Idee des Scheiterns konfrontiert sieht. Was für ein erstaunliches Buch!
Michael Sollorz, Die Eignung. Männerschwarm. Hamburg 2008