Ich hätte gewarnt sein müssen. Schon als das Buch ankam, vor über vier Wochen, bemerkte ich, noch bevor ich es überhaupt aufgeschlagen hatte, ein Taumeln, eine leichte Irritation, die ich sogleich abtat, so wie man mit dem alternden Körper umgeht, was mag das schon sein, mal wieder der zu niedrige Blutdruck oder so.
Das Taumeln wiederholte sich. An der Seite Natalies, auf den Spuren ihrer Blowjobs und der feinen Genauigkeit, mit der Clemens Setz die Andacht oder auch Vergrämungsattacken, wie durch das Wort Muttermund, beschreibt, verstärkte sich das Gefühl des Taumelns in eine stetige Präsenz, die ich als ein dafür empfindlicher Mensch zu jenen unvermeidlichen Nebenwirkungen moderner Literatur rechnete, die stärker intervenieren als manche Fertigarznei.
Ich hätte gewarnt sein müssen. Schon den Gedanken daran, am siebten Tag der Lektüre fremdzugehen, hätte ich besser verworfen, denn schon am Nachmittag dieses Tages war mir aufgefallen, dass ich, der so reden kann, wie andere nicht mal schreiben können, plötzlich das vergleichsweise einfache (und einfältige) Wort Authentizität auch beim dritten Versuch nicht richtig aussprechen konnte. Aber weil ich nun einmal TELLURIA auf dem Kindle schon geladen hatte und Sorokin endlich einmal leibhaftig erleben wollte, stieg ich am Tag des Authentizitätsversagens auf mein Fahrrad, um zum S-Bahnhof Yorckstraße zu fahren. In dem kleinen Nebenarm der Bülowstraße merkte ich plötzlich, dass ich trotz des entschiedenen Willens geradeauszufahren mich plötzlich als Linksabweicher auf die Diagonale begab. So viel Selbstkorrektur brachte ich noch auf, vom Fahrrad zu steigen, es ordentlich abzuschließen, und etwas schwankend meinen Weg zu Fuß fortzusetzen.
Hier wird es Zeit für ein spätes Geständnis. 1989 hatte ich für den PS Verlag Peter Selinka einen nicht weiter erwähnenswerten Roman von Edward Limonow übersetzt und zuvor, zusammen mit dem so begabten Übersetzer François Pescatore auch ein Gutachten über ein Romanmanuskript von Sorokin verfasst. Aus Gründen, die mir nicht mehr erinnerlich sind, verwarfen wir Sorokin, was ihm glücklicherweise nicht dauerhaft den Weg auf den deutschen Buchmarkt verbaute. Ich befand mich also nicht nur taumelnd auf dem Weg zum Wannsee, sondern auch zu einer Art von Abbitte, auch wenn ich sie nur mir selber gegenüber zu vollziehen hatte.
In Wannsee angekommen, setzte ich mich im bereits gut gefüllten Saal des Literarischen Colloquiums gleich neben die Tür, weil mich eine Ahnung befiel, dass ich den Saal, ohne Aufsehen zu erregen, schnell und unbemerkt verlassen können müsste. Was mich, eine Viertelstunde vor Beginn der Lesung, irritierte, war die große Zahl älterer Damen im Saal, die anstelle von Handtüchern am Strand die Plätze nahe zum Autor, der noch gar nicht anwesend war, belegt hatten und eine aufgekratzte Fröhlichkeit in Erwartung des Tellurnagels zeigten. Mich brachten diese Beobachtungen nun vollends zur Überzeugung, besser noch vor Beginn der Lesung das Weite zu suchen, denn ich würde es nicht lange mehr aushalten, ohne loszuspeien. Vorsichtig stand ich auf, schritt leise an der Wand lang auf den Ausgang zu und hatte auf dem Handy schon die 112 gewählt, als ich realisierte, dass ich 112112112112112 eingetippt hatte. Draußen korrigierte ich die Nummer der Rettung und bat darum, schnellstens abgeholt zu werden, ich stünde schon draußen am Sandwerder. Meine Bitte um Diskretion verfing nicht, denn der Rettungswagenfahrer hielt es für nötig, in die Einfahrt des LCB hineinzubrausen, was meiner Absicht, mich diskret vom Acker zu schleichen, völlig zuwider lief. Die fatale Folge war, dass ich, kaum auf dem Patientenstuhl sorgsam festgeschnallt, durch das Manövrieren des riesigen zu weich gefederten Tatütatas in eine Konvulsion versetzt wurde, die mich ohne Tellurnagel und wilde Damen nun wirklich mächtig zum Speien brachte.
Das hat man vom Fremdgehen in der nebenwirkungsreichen modernen Literatur. Ich kann den Fortgang der Geschichte abkürzen. Der anfängliche Verdacht, ich habe einen Schlaganfall erlitten, erwies sich als gegenstandslos. Mein Hirn ist, mit Ausnahme einer diskreten Läsion unbekannter Genese, makellos. Die Differentialdiagnose hatte ich, medizinisch solide halbgebildet, schon selbst gefunden, und sie wurde, zu meinem Leidwesen, durch das behandelnde Personal mehrmals durch dazu erforderliches ruckartiges Hin- und Herdrehen meines speienden Schädels erhärtet. In älteren medizinischen Terminologien nennt man die Neuritis vestibularis auch Labyrinthitis. Es handelt sich um eine idiopathische Entzündung des Gleichgewichtsnervs im linken Innenohr.
Drehschwindel und Übelkeit waren erst, nachdem die anderen Mittel versagt hatten, durch eine Tollkirschenintervention dauerhaft behoben (Lob der Tollkirsche!). Die anschließende hochdosierte, dann endlich ausschleichende Cortisonbehandlung versetzte mich, bis heute, in den Zustand einer jederzeit explosionsbereiten Handgranate, ein Aufruhr der Gefühle, der erst nachließ, als ich endlich zu verstehen begann, was mit mir wirklich geschehen war.
Durch nicht deklarationspflichtige Neben- und Wechselwirkungen mit Clemens Setz´ Roman sah ich mich in die glückliche Lage versetzt, einen mir gegenüber oft erhobenen Vorwurf, ich schriebe zu labyrinthisch, durch vollendete Somatisierung abzustreifen. Durch diesen Drehschwindel hindurch- und nunmehr herausgekommen, lerne ich in diesen Tagen, noch leicht taumelnd, man mag mich für betrunken halten, das aufrechte Gehen von neuem. Die Idee, dass das Gleichgewicht taken for granted sei, ist mir abhanden gekommen. Die neue Fragilität des durch Hirnkompensation erzeugten Gleichgewichts führt zu der beglückenden Erfahrung eines neuen Schreibstils.
Das Labyrinth liegt hinter mir. Ich kehre zurück zu Frau und Gitarre.
Dieser Beitrag ist ein Crosspost aus dem Blog „Frau und Gitarre“.