Die Stadt und der Tod

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Auf dem Weg von der Grand Central Station zum Columbus Circle. Ende März. New York ist in diesen Tagen warm und sonnig. Überall blühen die Zierbirnen, um sie der bittere Geruch in der Luft. Im Village heißen sie Cum Trees. Taxis werben für die Ausstellung „Real Human Bodies“. Lebensechte Tote. Alle paar Meter steckt zwischen den Coffeeshops und Imbissläden ein kleiner Kosmetik- oder Nagelsalon, der makellose Oberflächen anpreist. Unter dem Mikroskop verwandeln sich die geglätteten Oberflächen in Krater und Abgründe. Da hält schon wieder einer dieser Transporter mit den Schießschartenfenstern, gepanzerte Putzerfische für den Cash, der für jeden Quadratzentimeter in dieser Lage pro Sekunde fällig ist.

Am Abend meiner Ankunft sehe ich im Quad-Theater den Film An Encounter with Simone Weil von Julia Haslett. Gegen Mitternacht kommt Sylvère  Lotringer und erzählt über die Philosophie der Denkerin, Aktivistin und Mystikerin Simone Weil. Ihren Platz findet sie früh an der Seite der Schwachen, verwirft weitsichtig die Großideologien des 20. Jahrhunderts, die die Schwachen zur Geisel nehmen und verheizen.  „Sei da für die in Not. Tu das, was dich am meisten kostet. Nimm teil. Großmut heißt, aufmerksam da zu sein.“

Lotringers Vortrag wirkt wie eine Choreographie auf engstem Raum, auf einem Quadrat von 50 Zentimetern Seitenlänge bewegt er sich von These zu These, noch gezeichnet von einem schweren Unfall. Vor zwei Tagen ist er aus Baja California eingeflogen, wie immer mit kleinstem Gepäck. Unbelastet beweglich zu sein, ist für ihn Maxime des Überlebens und Denkens.  Er ist für das Thema seines Lebens nach New York gekommen, das Nachdenken über den Tod.

Der Tod im Leben

Sylvère Lotringers Arbeit an dem Projekt FRAMING DEATH begann Anfang der 80er Jahre, als die AIDS-Seuche und die neoliberale Dampfwalze über New York hereinbrachen. Plötzlich starben so viele Leute in ihren besten Jahren, Freunde, Künstler, Namenlose. Rosa von Praunheim drehte wenige Jahre vorher in New York den Film „Todesmagazin oder wie werde ich ein Blumentopf“. Photographen wie Jeffrey Silverthorne, Jerome Liebling, Joel-Peter Wilkin und Andres Serrano wagen sich, siebzig Jahre nach Gottfried Benns Gedichten aus der Morgue, in die Leichenschauhäuser und holen den Tod ins Leben zurück.

In den nächsten Tagen interviewt Lotringer Johnny Esposito, einen Filmemacher, der für eine Bezirksstaatsanwaltschaft arbeitet. Esposito erfand in den 80er Jahren die Methode, Crime Scenes mit Video zu dokumentieren, mit Handkamera, in schwarzweiß, nach einer von den Berufungsgerichten bald akzeptierten Methode. Esposito hat den Film Noir, Methoden des Cinéma Verité und Stilmittel des Horrorfilms als Mittel der Beweissicherung ins amerikanische Strafrecht verpflanzt.

Das Interview mit ihm vollzieht nach, was sich seit den 80er Jahren geändert hat. Heute verbringt Esposito die meiste Zeit mit der Auswertung von Aufnahmen aus über einer Millionen Überwachungskameras in seiner Stadt. Sie seien da, das Recht durchzusetzen. „Justice? Just us!“ sagt er trocken. Das Recht am eigenen Bild? Sei wie der Schutz der Privatsphäre gegenstandslos geworden. Strafverfolgung wird zu einem technischen Service. Der Filmemacher, in dessen Bezirk jährlich 5.000 Gewaltverbrechen stattfinden, entspannt sich zu Hause, indem er den Verkehrskanal einschaltet, bei Liveaufnahmen von Brücken, aus Tunnels, von Highways. Mancher Kriminalfall führt zu Filmmaterial von über 1.000 Stunden Länge, von denen vielleicht zwei oder fünf Minuten von der Grand Jury als Beweismittel für den Prozess zugelassen werden.

Das Material ist cool, rastert die Tatorte, entdramatisiert die Spuren von Gewalttaten durch den Verzicht auf Farbe. Die Aufnahmen berücksichtigen, wie die Juries, nach über zwanzig Jahren Reality TV, die Beweismittel verarbeiten. Die strafprozessuale Wahrheitsfindung bedient sich fiktionaler Technik. Ihre Ergebnisse bestehen den Realitätstest.

Am Sonntag treffe ich Lotringer in einem französischen Café in der Upper West Side. Mitten im Brunch-Getöse finden wir Platz an einem kleinen Tisch und Lotringer erzählt. Wie er als jüdisches Kind auf dem Land versteckt in Frankreich den Holocaust überlebte, später als akademischer Wanderarbeiter in Schottland, der Türkei, in Australien lehrte. Wie glücklich er im Rückblick darüber war, im Mai 1968 nicht in Paris, sondern in Sydney zu lehren, anschlussfähig für die Neuen Philosophen, deren Denken er als Professor für französische Literatur und Philosophie an der Columbia University nach New York brachte.

Das Sterben Nicholas Rays

In jahrelanger Arbeit hat Lotringer die Produktionsgeschichte des Films „Lightning Over Water“ von Nicholas Ray und Wim Wenders rekonstruiert. Ray, der Regisseur von „Rebels Without a Cause„, hatte in Wenders´ Film „Der amerikanische Freund“ eine kleine Nebenrolle gespielt, eine Hommage des jungen Filmemachers an das amerikanische Idol.

Nick Rays Hollywoodkarriere war lange vorbei. Sein Leben und sein Ruf schienen ruiniert, trotz seines Ruhms bei den Filmemachern um die „Cahiers du Cinéma“. Ray war an Lungenkrebs erkrankt und wollte, bevor er starb, einen letzten Film drehen. Der so unfassbar junge Wenders steigt in SoHo aus dem Taxi, läuft die Treppe hoch und klopft an die Tür zu dem Loft, in dem Ray die Lungen aushustet. Wenders war der erste ernst zu nehmende Kandidat, der auf Rays Suche nach einem Partner geantwortet hatte. Als die beiden sich die ersten Aufnahmen für ihren Film ansehen, sagt Wenders: „Das sieht so ungeheuer sauber aus, wie abgeleckt – wie das Ergebnis nackter Angst.“

Die beiden befinden sich auf Abenteuerreise in die Urszene des Sterbens. Nick der Urvater, Wim der Sohn. Da der sterbende Filmtitan, hier der ehrgeizige Nachwuchsstar. Lotringer erinnert an den Psychoanalytiker Jacques Lacan: „Der wahre Vater ist der tote Vater.“ Ray versteht es als der große Manipulator, der seine Schauspieler bis zum Äußersten trieb, dass alle sich schuldig fühlen, kostet die Szene bis zur Neige aus. Jeder Blick lauert, ob der Chor dieser Tragödie, das Team auf dem Set, mitbekommt, was auf dem Spiel steht: Nick Rays überlebensgroßes Sterben.

Die erste Fassung des Films, 1980 außer Konkurrenz in Cannes uraufgeführt, wurde von Wim Wenders aus dem Verkehr gezogen. Er hatte Peter Przygodda mit dem Schnitt alleine gelassen, weil er für Ford Coppola an Hammett arbeiten musste. Przygodda hatte einen Dokumentarfilm geschnitten. Wenders schneidet später den Film komplett neu und in der zweiten, fast 30 Minuten kürzeren Fassung hält er Fiktion und Dokumentation in der Schwebe, refiktionalisiert den Tod, überlässt in der letzten Szene Ray das letzte Wort, als es darum geht zu entscheiden, wer „cut!“ befehlen darf.

Lotringer vertieft den Blick hinter die Kulisse des Sets, zieht mich hinein in die postmoderne Tragödie, das Thema seines eigenen Lebens. Aus dem Professor Emeritus spricht der versteckte Junge, ein gelehrter Schalk. Er hat den eigenen Tod überlebt, sieht sich auf der Seite der Schwachen, zieht die Grenze zwischen sich und der Macht, schreibt Faszinationsgeschichte, indem er Faszination ermöglicht. Früh unterstützt er mit der von ihm gegründeten Zeitschrift Semiotext(e) die jungen Künstler New Yorks darin, das Werk der von ihm importierten französischen Philosophen wie einen Steinbruch für die eigenen Zwecke zu nutzen, wechselt nicht die Seiten, sondern findet seinen Platz auf dem Zaun zwischen Wissenschaft und Kunst, Leben und Tod, Wahrheit und Simulation, Dokumentation und Fiktion, kann das eine im anderen lesen, verstehen, vermitteln.

Die Stadt, der Müll und der Tod

Als Ende der 70er Jahre die Aufmöbelung New Yorks beginnt, als jeder öde Winkel in abseitiger Lage neu taxiert wird, als AIDS über New York hereinbricht, da vermittelt der junge Hochschullehrer die Werke der Neuen Philosophen wie ein Skript für das Verstehen der neuen Zeit, die da anbrach, ist seiner Zeit voraus, weil er sie hinter sich weiß. Jean Baudrillards Buch DER SYMBOLISCHE TAUSCH UND DER TOD wirkt im Rückblick auf diese Jahre wie ein Masterplan.

Die Performance FRAMING DEATH, zu der Lotringer jetzt nach Berlin kommt, erzählt von der Stadt, dem Müll und dem Tod. Kein Wunder, dass Rainer Werner Fassbinders Theaterstück 1987 in New York uraufgeführt wurde. Das rohe Stück erzählt auch die Geschichte New Yorks. Lotringer nimmt Fassbinders Faden auf, spinnt ihn weiter, erzählt die Geschichte der Totenstadt, in die sich New York verwandelt hat.

Auf dem Weg zurück zum Flughafen fragt mich eine junge Frau, ob ihr etwas von ihrem Makeup aus dem Gesicht falle. Tatsächlich ist sie erschreckend perfekt. Ich tröste sie und versichere ihr, dass ihre Maske perfekt sei.

Sylvère Lotringers dreiteilige Performance findet statt beim BERLIN DOCUMENTARY FORUM 2 im Haus der Kulturen der Welt (31.5.-3.6.2012).

Abwehrzauber, aggiornamento, Allgemein
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