Eine sehr erfreuliche Nachricht: Das Internationale Literaturfestival Berlin meldet, dass Alan Hollinghurst am 11. September aus seinem Roman »Unsere Abende« (übersetzt von Joachim Bartholomae) lesen wird.
Im Frühherbst 2005 habe ich für das „Wochenende“ der Süddeutschen Zeitung dieses Porträt geschrieben. Damals war gerade die deutsche Übersetzung seines Romans „The Line of Beauty“ erschienen.
Sex und Sein. Portrait des Autors Alan Hollinghurst. Süddeutsche Zeitung 15./16. Oktober 2005
An einem sonnigen Spätsommernachmittag auf dem Weg nach Hampstead. Von der Tube-Station führt der Spaziergang durch eine Idylle, die vergessen lässt, wie unwirtlich abweisend kaltnassgrau dieses London sein kann. Der Weg führt zu einem Haus mit Blick auf Parliament Hill. Alan Hollinghurst führt den Besucher die steile Treppe in sein Wohnzimmer hinauf, dicker Teppichboden schluckt fast jedes Geräusch. Das Wohnzimmerfenster bietet ein Heidepanorama (Hampstead Heath) – aber allenfalls für Seitenblicke des Besuchers, der auf dem quer zum Fenster stehenden Sofa Platz nimmt.
Alan Hollinghurst ist schwer erkältet. Er ist kleiner, als man ihn sich vorgestellt hat. Die Fotos, die das Pressebüro des Man Booker Preises verbreitet, zeigen einen in die Länge gestreckten Oberkörper, der nun die Proportionen eines durch die Nebelaura des Schnupfens etwas müde wirkenden, mittelgroßen Ausdauersportlers zeigt. Seinen ersten Roman „Die Schwimmbad-Bibliothek“ hat er in der meditativen Routine von täglich 50 Bahnen im Londoner YMCA-Pool konzipiert, hat er mal erzählt. Der Mann hat Ausdauer. Und Geduld.
Als sein neuer Roman „Die Schönheitslinie“ im vergangenen Jahr auf die short list des renommierten Man Booker Preises kam, hätte kaum einer darauf gewettet, dass er den Preis dieses Mal tatsächlich erhalten würde. Zehn Jahre vorher war sein zweiter Roman „The Folding Star“ (liegt bisher nicht auf Deutsch vor) für den Booker nominiert, angeblich dann aber wegen seiner freizügigen Sex-Szenen nicht zum Zuge gekommen.
Entsprechend marktschreierisch titelten die berüchtigten englischen Boulevardzeitungen, als am 18. Oktober 2004 die Entscheidung dieses Mal positiv für ihn ausfällt : „GAY SEX WINS BOOKER“. Der mediale Aufruhr belustigt und irritiert Alan Hollinghurst. „Schon komisch, was einem die lange einsame Arbeit des Schreibens für ein seltsames Echo eintragen kann.“ Ressentiments steigern die Auflage des Boulevards. Das liberale Klima ist keine Garantie gegen Wetterwechsel und scheint immer mal wieder revidierbar.
Der Vorsitzende der Booker-Jury, der frühere Kulturminister Chris Smith, räumte ein, dass es eine knappe Entscheidung gewesen sei – und als sei die ästhetische Würdigung des Romans ein Schutzschild gegen Anwürfe, unterstreicht er, dass „Die Schönheitslinie“, aufregend und brillant geschrieben, der Thatcherei der 80er Jahre tief unter die Haut gehe. Selten sei es gelungen, die Suche nach Liebe, Sex und Schönheit so wunderbar zu beschreiben.
Dem Autor selbst beschert der mit 50000 Pfund (circa 75000 Euro) dotierte Booker Preis „jede Menge Zeit weiter zu schreiben“, da die Preisträger, wie bei dem französischen Goncourt-Preis, in der Regel mit einer sehr hohen verkauften Auflage rechnen können. Er schreibt sehr langsam, 300 bis 400 Wörter am Tag. Das ist nicht viel mehr als eine Manuskriptseite, was erklärt, dass er an seinen Romanen fünf bis sechs Jahre arbeitet. „Da kann man schon ins Grübeln kommen, ob man noch existiert“; deshalb sieht er in dem Preis auch ein schönes Zeichen dafür, dass dieser Zweifel offenbar doch unbegründet ist.
Mit dem aufmerksam-belustigten Blick und feinen Ohr einer durch die große Schule der Ironie geläuterten weisen Eule sammelt Hollinghurst Eindrücke, Mienen, Stimmen, Rhythmen, Figuren. Die Kindheitserinnerungen des berühmten Philosophen Richard Wollheim („Germs. A Memoir of Childhood“, 2004) haben ihm besonders gefallen. Hollinghurst rühmt in einer wunderbaren Rezension die an Proust erinnernde Subtilität und Gründlichkeit, mit welcher Wollheim prägende Kindheitserfahrungen schildert. Für den Philosophen ist der Tag, an dem er lernte, sich selbst seinen Hintern abzuwischen, ein bleibender Bezugspunkt: Daran denke er stets, wenn er Moralphilosophen über Verantwortung reden höre.
Seit fast einem Vierteljahrhundert lebt Alan Hollinghurst in London. Er kommt aus dem kleinen Städtchen Stroud in der Grafschaft Gloucestershire inmitten der idyllischen Cotswold-Hügellandschaft. Geboren im Mai 1954 als einziges Kind eines Bank-Managers, las er im zarten Alter von 14 Jahren T.S. Eliot und James Joyce, fing früh an, selbst Gedichte zu schreiben und sich für Musik, besonders Richard Wagner, zu begeistern. Mit der Lyrik war es für ihn an dem Tag vorbei, als er Anfang der 80er Jahre den Vertrag für eine Gedichtsammlung unterschrieb, seither habe er kein einziges Gedicht mehr geschrieben. Mit seinem Vater teilt er das Interesse an Architektur und verdankt den vielen Besuchen von Baudenkmälern unter der Obhut des National Trust eine traumwandlerisch betörende Sprache für die Beschreibung von Häusern, Gärten und Landschaften.
Die Stationen seiner akademischen Ausbildung sind shock-and-awe-imposant, zeugen von einer akademischen und literarischen Fruchtbarkeit, die kein Zivilisationsbruch überschattet. Er studiert Englisch am traditionsreichen Oxforder Magdalen College, früh erhält er den renommierten Newdigate Prize for Poetry (frühere Preisträger waren John Ruskin und Oscar Wilde) und teilt sich in der Zeit seiner Promotion ein Haus mit Andrew Motion, dem heutigen Poet Laureate (eine ehrwürdige Einrichtung des Vereinigten Königreichs, der P.L. gehört für die zehn Jahre seiner Berufung zum königlichen Haushalt). Anfang der 80er Jahre zieht Hollinghurst von Oxford als Literaturkritiker für das Times Literary Supplement (TLS) nach London. Über diese ersten Jahre schwärmt er später, was alles möglich war, seine Romanze mit London, die Entdeckungslust. Als er 1985 stellvertretender Chefredakteur des TLS wird, hätte man ihn getrost für einen ausgekochten literarischen Mandarin halten können, hätte er da nicht längst mit der Arbeit an seinem bahnbrechenden ersten Roman begonnen, den Edmund White als „das beste Buch eines englischen Autors über schwules Leben“ würdigte.
Im Rückblick können wir die bisher vier Romane (2005) Alan Hollinghursts mit einer gewissen ästhetischen Willkür als eine Oper in vier großen Akten begreifen. Im ersten Akt („Die Schwimmbad-Bibliothek“) erleben wir im Sommer 1983 die triumphierende Apotheose des jungen schwulen Helden. Der hübsche William Beckwith genießt diesen letzten Sommer, der noch einmal so sein sollte, wie er nie mehr wiederkehren würde, als seine „belle epoque“ in vollen Zügen. Ein leichter Tristan-Akkord grundiert die Vorahnung der einsetzenden Aids-Epidemie, wird aber nicht Thema, sondern bleibt allenfalls untergründiges Streichersäuseln. Wie ein unschuldiger, aber ästhetisch bereits raffinierter Parsifal sieht der junge Held sich mit der aufregenden Geschichte des Lord Nantwich konfrontiert (Studium, Kolonialverwaltung im Sudan, Kriegsjahre in London mit schwarzen amerikanischen Soldaten, schließlich Gefängnis) – und muss erkennen, dass in dieser Geschichte auch sein Großvater als Strafverfolger eine unrühmliche Rolle spielt. Dieser Akt ist dem Oxforder Freund Nicholas Clark gewidment, einem der ersten englischen Aids-Opfer.
Der zweite Akt ist im Grunde ein verkapptes Requiem. Unschwer erkennen wir in dem Roman „The Folding Star“ die Anspielungen auf Georges Rodenbachs „Das tote Brügge“. Der Held Edward Manners ist ein etwas schwammiger Vierzigjähriger mit einem kleinen Alkoholproblem, der als Hauslehrer nach Belgien zieht, auch dort weiterhin mit zahlreichen wechselnden Partnern Sex in vollen Zügen genießt. Aber das Maestoso bleibt immer präsent, die Erinnerung an die erste Jugendliebe, den Freund, der in der zweiten Szene zu Grabe getragen wird, unterfüttert und nährt die Sehnsucht nach dem jugendlichen Privatschüler – und wir erkennen, dass Edward Manners wie Rodenbachs Hugo Viane nach Brügge gegangen ist, weil diese Stadt und die Konstellation der Menschen, denen er dort begegnet, den passenden Rahmen für die Schwermut seiner Erinnerung an den toten Geliebten bieten.
Der dritte Akt, der Roman „Die Verzauberten“, ist ein wildes heiteres Schäferspiel im ländlich-idyllisch traumverlorenen Dorset und dem fiebrigen Sex-, Drugs- und House-London der 90er Jahre, das sich einen Dreck um die noch amtierende konservative Regierung und geltende Strafgesetze schert. Von fern erinnert uns dieser Akt an eine schwule Persiflage auf Laclos’ „Gefährliche Liebschaften“. Der Ringelreihen rasant wechselnder Beischlaf- und Rausch-Konfigurationen gibt Raum für tiefste Sehnsuchtsseufzer, quälend stechende Eifersuchts-Klarinetten und schließlich die heitere Melancholie des bescheidenen wiedergefundenen Glücks. Die Tristanakkorde des ersten Akts, das Maestoso aus dem zweiten Akt tauchen leitmotivisch wieder auf, werden aber erfolgreich übertönt von der frenetischen Suche nach dem schnellen Glück.
Der Schlussakt, „Die Schönheitslinie“ kehrt zurück in das Jahr 1983 und weitet den Blick auf die schlimmen folgenden Jahre bis 1987. Das Tableau ist zum Fürchten schön. Der junge Nick Guest zieht in das großbürgerliche Haus der Familie seines (heimlich geliebten) stockheterosexuellen Studienfreunds in Kensington Park Gardens. In einer furiosen Folge blendend geschriebener Szenen und in einer rasanten Dialog-Regie entsteht vor unseren Augen auf großer Bühne das Panorama der auf rettende Distanz gerückten wiedergefundenen Zeit der Thatcherei. Der jugendliche Held schwingt die Lady sogar selbst für ein Tänzchen übers Parkett.
Zu Beginn freilich fickt er in den privaten Gemeinschaftsgärten der Kensington Park Gardens seinen schwarzen Freund Leo: „Nick war jetzt ganz und gar versunken in sein Tun, doch dann, kurz bevor er kam, sah er sich selbst, als hätten sich alle Bäume und Sträucher weggewälzt, und alle Lichter Londons wären auf ihn gerichtet: den kleinen Nick Guest aus Barwick, Don und Dot Guests Junge, der nachts in Notting Hill einen Fremden im Park fickte. Leo hatte Recht, er war ein schlimmer Junge, und das hier war bei weitem das Beste, was er je gemacht hatte.“ Die Verwandlung des ästhetisch sensiblen Intellektuellen mit prekärem Klassenstatus in einen opportunistischen koksenden Dandy ist ein Kunstgriff, der es uns atemlosen Lesern ermöglicht, ein Zeitalter zu besichtigen, durch das er uns als unfreiwilliger Zeuge führt. Der erste Liebhaber Leo ist längst an Aids gestorben, der mondäne Lover Wani siecht dahin. Dennoch bleibt in der Schwebe, ob dieser Akt in Dur oder Moll endet, es ist wohl eher Doll.
„Die Schönheitslinie“ hat Hollinghurst Francis Wyndham gewidmet, der berühmten Hebamme guten Schreibens in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts, wie ihn Tim Hilton im Guardian einmal tituliert hat. Der Besucher zeigt Hollinghurst eine Abbildung des Porträts, das Lucian Freud von Wyndham gemalt hat und fragt, welche Bedeutung Wyndham für ihn besitzt. Mit der eigentümlich tiefen Stimme, die ihm beim Times Literary Supplement den Spitznamen Basso profundo eingetragen hat, sagt er: „Das Bild von Freud ist mir zu düster. Francis ist ein großartiger Entdecker, zum Beispiel hat er für den Alfred Deutsch Verlag V.S. Naipaul entdeckt und für das Sunday Times Magazine Bruce Chatwin gewonnen. Er ist ein Lektor, auf dessen Rat man hört, ein überaus erfahrener Literaturkritiker. Wir lernten uns Mitte der 80er Jahre bei einer Tagung kennen und ich wusste bereits, dass er jemand war, dem Autoren ihre neuen Arbeiten zur Beurteilung zeigten. Ich gab ihm das Manuskript meines ersten Romans ,Die Schwimmbad-Bibliothek’ und habe ihn als wunderbar intelligenten gründlichen Leser schätzen gelernt. Francis ist jemand, dessen ,imprimatur’ mir viel bedeutet. Außerdem ist er einer meiner schärfsten Wettbewerber bei ,Nemo’s Almanac’.“ Die professionelle und persönliche Zuneigung macht sichtbar, was er dem Besucher vorher als seinen eigenen Hauptcharakterzug bezeichnet hat: „Ich bin Perfektionist.“ Als Perfektionist sucht er den Rat des Besten.
„Nemo’s Almanac“ ist ein jährlich erscheinender vertrackter literarischer Almanach, der für jeden der zwölf Monate jeweils sechs Zitate zu einem verwandten Thema enthält. Nemo’s hat eine sehr exzentrische, fast fanatische Leserschaft, die versessen darauf ist, jedes Zitat richtig zu identifizieren. Meistens handelt es sich um weitgehend vergessene Autoren. Es gibt einen schwunghaften Schwarzmarkthandel für Lösungen. Hollinghurst war selbst lange Jahre Herausgeber, weswegen wir uns sicher sein können, dass seine Romane nur so wimmeln von Andeutungen, kryptischen Zitaten und Querverweisen auf Werke seiner Lieblingautoren. Erkennbar sind das Henry James, Ronald Firbank, Marcel Proust, aber auch Vladimir Nabokov.
Hollinghurst erzählt von einer Lesegruppe, in welcher er das Gesamtwerk von Henry James erneut gelesen hat. „James hat bewundernswert über die Romanform nachgedacht. Er verabscheute die mäandernden viktorianischen Romane mit ihren endlosen Details und subplots. Für James musste im Roman alles seine Bedeutung haben. In dieser Tradition zu arbeiten ermöglicht eine hohe Selbstdisziplin. Außerdem bewundere ich sein Gespür für Rhythmen.“ Vielleicht hilft diese Bewunderung, ein Rätsel aufzuklären, das dieser etwas asketisch anmutende Mann auch engen Freunden aufgibt, die ihn als „extremely compartmentalized“ beschreiben. Hollinghurst zögert keine Sekunde, sich selbst als begnadeten Tänzer zu bezeichnen (und hat keine Scheu, das Glücksgefühl in Erinnerung zu rufen, das ihm sein erstes Ecstasy-Erlebnis bescherte). Das Gespür für Rhythmen ist ihm durch Literatur und Musik in den eigenen Körper gewachsen.
Zu seinen Hausgöttern rechnet Hollinghurst mit Ronald Firbank einen Autor, der für den deutschen Buchmarkt wohl noch zu entdecken ist. Als reicher Erbe reiste er durch Spanien, Italien, den Nahen und Mittleren Osten und hat eine ganze Reihe sehr komischer Romane geschrieben, in denen es nur so wimmelt von bemerkenswerten Figuren wie einen König mit der Miene eines erschöpften Konditors, einem Chorknaben mit dem geistesabwesenden Ausdruck eines Kätzchens, das Visionen hat, einem Musiker mit einer Stimme wie Nuttendiesel oder einen Kardinal, der in seiner Kathedrale einen Hund auf den hübschen Namen Crack tauft und schließlich einen Herzinfarkt erleidet, als er nackt hinter einem Chorknaben herjagt.
Abgesehen von seinen Vorlieben für Wagner, Architektur und das Times-Kreuzworträtsel sieht Alan Hollinghurst, dieser wunderbare Mandarin einer Literatur, die dem Leser nichts vorschreibt, kaum einen Anlass, sich vom täglichen Schreiben abhalten zu lassen. Es sei denn, seine Faulheit und leicht erregbare Bereitschaft, sich von der Arbeit ablenken zu lassen, funken ihm mal wieder dazwischen.