Die Wirklichkeit ist der Test

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„Später erzählt K., wie ein Wiener Komiker, in New York ankommend, vor den Pressefotografen die Erde küsst. Das dürfe einen nicht stören, sagt K., es bedeute nur: „Küss die Erde!“

Am Sockel der Freiheitsstatue befand sich seit 1903 eine Bronzetafel mit einem Sonett von Emma Lazarus. Seine letzten Zeilen lauten:

„Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie
Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen,
Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,

Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;
Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,
Hoch halt‘ ich mein Licht am gold’nen Tore!“

In diesen Tagen helfen historische Präzedenzfälle, hier die Erfahrungen der deutsch-jüdischen Emigranten in den USA, besser zu verstehen, was tatsächlich geschieht. Mit Staunen, auch mit gemischten Gefühlen kommentieren es die internationalen Medien. Vor ihrer Reise nach Indien gab die Bundeskanzlerin dem Deutschlandfunk ein Interview:

„Wenn so eine Aufgabe sich stellt und wenn es jetzt unsere Aufgabe ist – ich halte es mal mit Kardinal Marx, der gesagt hat: „Der Herrgott hat uns diese Aufgabe jetzt auf den Tisch gelegt“ –, dann hat es keinen Sinn zu hadern, sondern dann muss ich anpacken und muss natürlich versuchen, auch faire Verteilung in Europa zu haben und Flüchtlingsursachen zu bekämpfen. Aber mich jetzt wegzuducken und damit zu hadern, das ist nicht mein Angang.“

Frau Merkels Aussage steht in einem eigentümlichen Gegensatz zum Chor der Bedenkenträger, die sich für das Hadern entschieden haben. Was sind das für Stimmen und Bilder? In welchen Traditionen stehen sie? Welchen Beitrag leisten sie zum Verstehen? Oder ist das gar nicht ihr Ziel?

Das sind Fragen, die gestern Abend Anne Will nicht in den Sinn gekommen sind. Ein Beifang der Medienbeobachtung, wenn ein routinierter Talkshowhost wie Frau Will es nicht einmal als Erkenntnisproblem begreift, dass sie zur Betriebsnudel des politischen Geschäfts geworden ist. Doppelblind, sozusagen. Warum hat sie ihr Team nicht mal auf Recherche von Präzedenzfällen geschickt? Neben den Millionen Kriegsvertriebenen waren zB in den ersten Jahren nach 1945 6,5 Millionen displaced persons in Lagern interniert: KZ-Überlebende und Zwangsarbeiter. Auch die damit verbundenen Probleme wurden „angepackt“, natürlich gab es massive Probleme, aber auch Schwarzmarktkarrieren, denen wir einen so begabten Autor wie Hans Magnus Enzensberger verdanken. Keiner wäre damals auf die Idee gekommen, sich als Medienbeobachter wie Frank Lübberding oder Michael Hanfeld in Partei zu verwandeln.

Landauf, landab reden sie von Kapazitätsgrenzen, wollen Fluchtursachen bekämpfen, Fehlanreize beseitigen oder beklagen fehlgeleitetes Gutmenschentum. Sie können sich nicht entscheiden, in welcher Rolle sie argumentieren. Sind sie Sachbearbeiter, wie neulich der Bundesinnenminister im ZDF? Sind sie Ökonomen, welcher Orthodoxie? Sind sie geopolitische Strategen (ganz alter Schule)  oder neoliberale Dogmatiker, für die die Welt auf ein System von Anreizen bzw. Fehlanreizen zusammenschnurrt? Welchem Affen schmeißen sie vergeblich Zucker hinterher?

Die nur scheinbare Genauigkeit derjenigen, die von Kapazitätsgrenzen reden, vollzieht eine Abstraktion, die Hannah Arendt mit dem Bild der „Banalität des Bösen“ beschrieben hat. Selbst das ist zur Banalität des Blöden zusammengeschrumpft. Ob sie 1000 Tonnen Zucker im Hamburger Hafen lagern müssen oder die Transportkapazitäten für Güterzüge in die Vernichtungslager berechnen – mit ihrem mentalen Rechenschieber sagen sie: Geht nicht. Gibts nicht. Weg da!

Wer „Fluchtursachen bekämpfen“ will, bräuchte nur auf die Stimmen der Flüchtenden zu hören. Sie sagen: „Wer noch etwas hat wie ein Haus oder ein Auto, verkauft alles und flieht vor dem Bürgerkrieg.“ Auch nach tausenden Luftangriffen hat sich an der maßgeblichen Fluchtursache in Syrien nichts geändert. Wer sich nicht abschlachten lassen will und über die nötigen Mittel verfügt, flieht.

Das Reden vom „Bekämpfen der Fluchtursachen“ errichtet einen Scheinriesen. Hinter ihm verbirgt sich Ratlosigkeit. Als Stimme eines anderen Bürgers kennt man diese Form ohnmachtgeschützter Innerlichkeit:

„Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.“

Wer „Fehlanreize beseitigen“ will, kann damit kaum das hiesige Taschengeld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz meinen. Denn die Flüchtlinge zahlen tausende von Euro, um das Leben ihrer Familien zu retten. Auch verstärkte militärische Anstrengungen gegen Schleuser ändern daran nichts, außer dass die Preise steigen. Sie werden bezahlt.

Die „Willkommenskultur der Gutmenschen“ (in der Sprache des Dritten Reichs hieß das Humanitätsduselei) zeigt, über welche Ressourcen die Zivilgesellschaft heute verfügt. Die Gesetzgeber in Bund und Ländern sind gut beraten, bei den anstehenden Beratungen sie einzubeziehen. Denn die öffentliche Verwaltung braucht die Tatkraft, die Improvisierungsgabe und das Engagement der Zivilgesellschaft. Die öffentliche Verwaltung scheint nicht so gut vorbereitet zu sein, wie sie es sein müsste. Darüber gibt auch die Sprache des Bundesinnenministers unfreiwillig Auskunft, der im ZDF im Stil eines Sachbearbeiters und Vollzugsbeamtens argumentierte:

„Wer hier nach Deutschland kommt (…), der muss sich dahin verteilen lassen, wohin wir ihn bringen, sich einem fairen Verfahren unterstellen und unsere Rechtsordnung anerkennen.“

 

Spott und Hohn gegen die Gutmenschen bezeugen fehlgeleitete aggressive Impulse. Ebenso wie die Scheinrationalität der Kapazitätsbeschwörer und Ursachenbekämpfer erfüllen sie symptomatisch, was Sigmund Freud als „Ersatzhandlung“ beschrieben hat: „eine Handlung, die an die Stelle der ursprünglich angestrebten tritt, wenn diese durch Verdrängung oder äußere Hemmung nicht ausgeführt werden kann. Der Trieb oder das Bedürfnis, das hinter der angestrebten Handlung steht, verschiebt sich in ein anderes, dem ursprünglichen Ziele oftmals grundverschiedenes Handlungsziel.“

Ein Experte für Ersatzhandlungen ist der bayerische Heimatminister Markus Söder, der kürzlich laut darüber nachdachte, ob es nicht besser gewesen wäre, „die 86 Milliarden Euro für Griechenland … in den massiven Schutz der Grenzbereiche“ zu investieren.

Auch das hektische Abhalten von Sondersitzungen und Sonderkonferenzen kann als Ersatzhandlung verstanden werden, das oft nur dem Ziel dient, das Problem für unlösbar zu erklären, statt die anstehenden Aufgaben anzupacken.

Schließlich gibt es aus dem Kreis der Hadernden Begriffe aus dem Repertoire der Krämersprache. Dazu gehört die Idee von „Rücknahmeabkommen“, die so tut, als handele sich bei den nach Deutschland Geflüchteten um mangelhafte Warenlieferungen. Auch die schönste Paketidee vermag nichts an dem Sachverhalt zu ändern: Die Menschen sind da. Sie haben unvorstellbare Strapazen hinter sich. Sie lassen sich nicht wie mangelhafte Waren reklamieren und an ihre Absender zurückschicken.

Vorboten des semantischen Bürgerkriegs

Die bisher beschriebenen Begriffe der Hadernden erwecken zumindest noch den Eindruck, als kümmerten sich ihre Urheber um mögliche Lösungen. Anders sieht es aus, wenn die aktuelle Lage mit Bildern einer Naturkatastrophe beschrieben wird. Wer behauptet, Deutschland werde geflutet, bezieht sich unausgesprochen auf die Flutkatastrophe von 1962, die Bewährungsprobe für den damaligen Hamburger Innensenator Helmut Schmidt. Das Bild des Flutens spielt ein anderes Spiel. Es behauptet, die mit der Daseinsvorsorge Beauftragten rissen die Deiche ein. Wer so argumentiert, erhebt den Vorwurf des Hochverrats. Auch ein Goethe-Biograph mit K-Gruppen-Expertise könnte wissen, was er damit anrichtet.

Die Lage gibt auch anderen politischen Nachwuchstalenten Gelegenheit, sich den Herausforderungen als nicht gewachsen zu zeigen. Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner schrieb sich mit dem Denkbild in die Zeitgeschichte ein, Integration sei keine Einbahnstraße. Wie sie den Gegenverkehr der erfolgreichen Integration nach Maßgabe der Straßenverkehrsordnung in den Griff bekommen will, wird ihr Geheimnis bleiben.

Die schrillen Stimmen erinnern an das Phänomen des unbewussten Sehens, nur mit dem Unterschied, dass ihre Urheber ganz vorsätzlich etwas nicht wahrhaben wollen. Wer zwischen fünf Uhr morgens und 23:59 Uhr abends die Qualitätsmedien in Funk, TV, Online und Print verfolgt, stößt auf eine Vielzahl ähnlicher Beobachtungen. Sie bezeugen, wie nahtlos Ohnmacht, Ersatzhandlungen und rhetorisches Versagen in einander greifen.

Was hören und sehen die Auslandskorrespondenten in Deutschland?

Man kommt nicht mehr mit. Die Kehrtwende erfolgt zu schnell. Das Verständnis für die Visegrad-Länder Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei wächst. Kritische Stimmen gewinnen bei den Konservativen Überhand. (Nouvel Observateur).

Le Monde erinnert daran, dass über 14 Millionen Deutsche selbst Flucht erfahren haben und ein anderes Verständnis für die Nöte aufbringen. Früh findet sich auch der Hinweis darauf, dass sich ein ökonomischer Nutzen für die Herausforderung des demographischen Wandels abzeichne. Merkel zeige nach der Härte gegen Griechenland nun ein freundliches Gesicht, auch wenn das in Osteuropa anders gesehen werde. Merkels pragmatische Entschlossenheit erstaunt.

Die Krise wird zu einer Belastungsprobe für die Große Koalition. (Libération)

Mama Merkel entsorgt das Bild vom hässlichen Deutschen. Aber vielleicht sind die maßgeblichen Motive nicht ganz so rein. Doch wenn es stimmt, wenn die Deutschen ihre nationalen Interessen tatsächlich nur im Flüsterton ansprechen können, damit das Ungeheuer des Nationalismus nicht geweckt wird, ist auch das bewundernswert. Es lässt auf ein Land schließen, das seine Vergangenheit nicht verleugnet, sondern sich ihrer voll und ganz bewusst ist – und fest entschlossen, alles zu tun, damit sie sich niemals wiederholt. (Guardian)

Wer ein Herz hat, zeigt sich berührt von den Flüchtlingsschicksalen. Aber wer einen Kopf hat, weiß auch, dass das deutsche Willkommen allein die Krise nicht lösen wird (New York Times)

Der belgische de Morgen will Frau Merkel ein Denkmal errichten.

Defeat device

In diese Stimmen tönt schließlich auch das Echo der Volkswagen-Krise. Der Auftraggeber der Studie, die VW des Betrugs überführt hat, heißt John German. Welches Störgeräusch greift aus dieser Krise auf das Bild über, das sich die Welt von Deutschland macht? Vor kurzem sah ich eine Karikatur (ich finde sie nicht mehr), in der zwei Woody Allen Figuren zusammenstehen. Die eine sagt zur anderen: Stell Dir vor, ein von Adolf Hitler gegründetes Unternehmen hat einen Vertrauensverlust erlitten. – Nein!

Etwas ganz Erstaunliches gelangt so in den Blick. Im Gegensatz zum beherzten Pragmatismus der Bundeskanzlerin ertönt aus dem tiefen Herzen der Volkswagenkrise ein verzagtes „Wir schaffen das nicht“ (die geltenden Abgasnormen ohne Betrug zu erfüllen).

So bleiben die Gefühle gemischt. Erstaunen weicht der Ernüchterung. Die Wirklichkeit aber bleibt der Test. Ob wir uns ihr gewachsen zeigen oder auf Ersatzhandlungen und Tricks verfallen, liegt an uns: der Politik, der öffentlichen Verwaltung und der tatkräftigen Zivilgesellschaft.