Schutz unterirdischer Leitungen

S

Wladimir Sorokin erzählt in der neuen Ausgabe der New York Review of Books von den Tagen des Putschs gegen Gorbatschow im August 1991. Die aufgebrachten Bürger Moskaus auf dem Lubjanskaja Platz vor dem Hauptquartier des KGB schienen entschlossen, das Standbild Feliks Dzierżyńskis zu stürzen. Die Schlinge hing ihm schon um den Hals, als ein Abgesandter Boris Jelzins auftauchte und die Bürger um das historische Erlebnis eines Denkmalsturzes brachte. Der Abgesandte warnte davor, der Fall der Statue drohe unterirdische Kommunikationsleitungen zu beschädigen, ein Kran sei schon unterwegs, um das Standbild abzutransportieren und Schaden zu vermeiden. Die Bürger Moskaus hörten auf ihn, als gehöre es zu den Symbolen der russischen Revolutionsgeschichte, nicht auf Bahnsteigkarten, aber auf Transportlogistik zu setzen, 1991 mit einem Kran, der die Statue sicherstellte, auf dass sie eines Tages wieder aufgerichtet werden möge, 1917 mit einem verplombten Eisenbahnwaggon für einen gewissen Herrn Uljanow.

Der Schutz unterirdischer Kommunikationsleitungen ist ein wunderbares Sinnbild für die Kontinuität politischer Regime und eine gute Gelegenheit dafür, an  H.G. Wells´Interview mit Josef Stalin aus dem Jahr 1934 zu erinnern. Es beginnt mit einer erstaunlichen Bescheidenheit:

Wells I am very much obliged to you, Mr Stalin, for agreeing to see me. I was in the United States recently. I had a long conversation with President Roosevelt and tried to ascertain what his leading ideas were. Now I have come to ask you what you are doing to change the world . . .

Stalin Not so very much.

 

Der bescheidene Bürger Stalin verwarf die Bescheidenheit des berühmten Autors, Wells selbst sei alles andere als ein einfacher Mann. Was mich an diesem abgelegenen Thema interessiert, ist die Neugier des Science Fiction Autors auf die ökonomischen Verwerfungen seiner Zeit, auf den amerikanischen Sozialismus, auf Roosevelts New Deal als implizite Hommage an die Russen, als robuste politische Praxis der politischen Ökonomie (um nicht zu sagen, von der Oktoberrevolution zu lernen, hieße auch für einen von der Großen Depression gebeutelten US-Präsidenten, siegen zu lernen). Stalin antwortet vorhersehbar, ein Sozialismus mit Kapitalisten sei Unsinn, man müsse sich derer schon entledigen, so wie er erst kurz zuvor die Sowjetunion entkulakisiert hatte (natürlich waren die Kulaken keine Kapitalisten).

Das Gespräch ist erstaunlich freimütig, auch wenn Bürger Stalin bloß die Lektionen des Historischen Materialismus herbetet. Die Fragen nach dem Individuum und seiner Position in der Gesellschaft sind 1934, wenige Jahre vor den Schauprozessen, offenbar noch freimütig zu beantworten.

Ich lese dieses Interview nicht als Hagiograph Stalins. Heute erst habe ich zum dritten Mal in meinem Leben H.G. Wells für mich entdeckt, das erste Mal las ich ihn in meiner Jugend, meiner Mutter dankbar für eine große Zahl seiner Romane, die sich bei uns im Keller sammelten. 1995 zog ich nach London, wo wenige Wochen nach meinem Umzug Robert Wilson und Hans Peter Kuhn eine Hommage an Wells inszenierten, in einer wunderbar erhalten gebliebenen Londoner Unterwelt (kein Standbild-Sturz hat sie zu Fall gebracht), wie sie heute eine Rolle in manchen Romanen China Miévilles spielt, den ich für einen nachgeborenen H.G. Wells unserer Zeit halte.

Seine Miniatur über eine Explosion lese ich nicht als zynische Distanz, sondern wie einen phantastischen Realismus, der von allen Phänomenen seiner Zeit dramaturgisch angemessenen Gebrauch macht. Auch sein Essay über die London Riots im Jahr 2011 bezeugt die analytische Aufmerksamkeit des LSE-Absolventen und einstigen Socialist Workers Party-Kandidaten für politische Proteste und ihre Motive.

Jedenfalls kam mir, während ich Wells´Gespräch mit Stalin las, die Frage in den Sinn, welcher international anerkannte Autor unserer Zeit ein ähnlich freimütiges Gespräch mit Wladimir Putin führen könnte. Ich schwanke noch zwischen Miéville und William Gibson, Gibson vor allem wegen seines Romans Pattern Recognition.

Nun liegt es leider nicht in meiner Macht, international renommierte Autoren nach Moskau zu schicken, vielleicht reicht  aber meine Phantasie und die meiner Leser dazu aus, uns gemeinsam vorzustellen, wie so ein Gespräch aussehen und verlaufen könnte. Schreiben wir das hier auf?

Ach und während ich heute so einen dahinfließenden vorletzten kontemplativen Tag zu Ende gehen sehe, bevor ich mich auf Europareise begebe, nutze ich die Gelegenheit für einen Abschluss mit dem Cellisten Paul Tortelier. Erst stieß ich heute Morgen auf diese Meisterklasse Torteliers zum Cellokonzert Edward Elgars. Sehr, sehr sehenswert, nicht allein wegen der feinsinnigen milden Boshaftigkeit, sondern für die Präzision, mit der Tortelier musikalischen Realismus von der luftigen Emergenz von Klängen unterscheidet. Jedenfalls endet dieser Tag mit dem ersten Satz dieses Cello-Konzerts, gespielt vom BBC Symphony Orchestra unter Malcom Sargent mit Paul Tortelier.

update (völlig anlasslos, historisch etwas daneben)

Der Abgesandte Jelzins steht selbst in einer auf revolutionäre Umbrüche und von ihnen ausgehendem Schaden reagierenden Tradition. Während des Kapp-Putsches richtete Professor Kokoschka das kunstbesorgte Wort an die Bürger und Bürgerinnen Dresdens:

»Ich richte an alle, die hier in Zukunft vorhaben, ihre politischen Theorien, gleichviel ob links-, rechts- oder mittelradikale, mit dem Schießprügel zu argumentieren, die flehendlichste Bitte, solche geplanten kriegerischen Uebungen nicht mehr vor der Gemäldegalerie des Zwingers, sondern etwa auf den Schießplätzen der Heide abhalten zu wollen, wo menschliche Kultur nicht in Gefahr kommt. Am Montag, den 15. März, wurde ein Meisterbild des Rubens durch eine Kugel verletzt. Nachdem Bilder keine Möglichkeit haben, sich von dort zu retten, wo sie nicht mehr unter dem Schutze der Menschheit stehen, und auch weil die Entente einen Raubzug in unsere Galerie damit begründen könnte, daß wir keinen Sinn für Bilder hätten, so fiele auf die Künstlerschaft von Dresden, die mit mir bangt und zittert und sich dessen bewußt ist, solche Meisterwerke nicht selber schaffen zu können, wenn die uns anvertrauten zerstört wurden, die Verantwortung, einer Beraubung des armen zukünftigen Volkes an seinen heiligsten Gütern nicht mit allen Mitteln rechtzeitig Einhalt geboten zu haben. Sicher wird später das deutsche Volk im Ansehen der geretteten Bilder mehr Glück und Sinn finden, als in sämtlichen Ansichten der politisierenden Deutschen von heute. Ich wage nicht, zu hoffen, daß mein Gegenvorschlag durchdringt, der vorsähe: Daß in der deutschen Republik wie in den klassischen Zeiten Fehden künftig durch Zweikämpfe der politischen Führer ausgetragen werden möchten, etwa im Zirkus, eindrucksvoller gemacht durch das homerische Geschimpfe der von ihnen angeführten Partei. Was alsdann harmloser und weniger verworren wäre, als die jetzt üblichen Methoden.

Oskar Kokoschka, Professor an der Akademie der bildenden Künste in Dresden

 

George Grosz und John Heartfield haben die besorgte Intervention mit ätzendem Spott kommentiert.