Zur politischen Kultur des Neobiedermeiers

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Vor sechs Wochen postete ich diesen von mir hier überarbeiteten und ergänzten Beitrag bei Wiesaussieht. Dazu gibt es ein Panel beim nächsten taz.lab am 12. April in Berlin. Um 11:15 Uhr rede ich im Orchideengarten des HKW mit Martin Reichert über meine Thesen.

Der Begriff der politischen Kultur erlebt Wiederauferstehung. Almonds und Verbas Studie aus den 50er Jahren traf die Unterscheidung zwischen parochialer Kultur, Untertanenkultur und partizipierender Kultur. Maßgebliche Untersuchungsgegenstände sind Aufbau und Struktur des Systems, Inputmöglichkeiten, Outputfähigkeiten und Selbstwahrnehmung.

Die deutsche politische Kultur eines Neobiedermeiers hat sich an der Schnittstelle zwischen parochialer Kultur und Untertanenkultur gemütlich eingerichtet. Der Fall des Abgeordneten Sebastian Edathy illustriert diesen Sachverhalt.

Aufbau und Struktur des Systems

Aufbau und Struktur des Systems betrachte ich unter dem Aspekt der deutschen Kultur des Dienstwegs. Was bedeutet der Sachverhalt, dass der Bundesinnenminister Dienstvorgesetzter des BKA-Präsidenten ist, in Bezug auf die Frage, worüber der Untergebene seinem Dienstherren berichtet? Dass die Gardinen von Lieschen Müller seit drei Monaten nicht gewaschen worden sind? Dass aus dem Zögling Törleß kaum mehr was werden wird? Dass Mahlke nicht schwimmen will? Dass es da etwas gegen einen prominenten SPD-Bundestagsbgeordneten gibt?

Die Fiktionalisierung scheint nur willkürlich. Tatsächlich geht nichts davon den Bundesinnenminister an. Es sei denn, und das kennzeichnet die Ähnlichkeit zwischen dem Neobiedermeier und dem Zeitalter der Restauration nach dem Wiener Kongress, dass die Führung nicht nach Recht und Gesetz handelt, sondern sich anderen Opportunitäten unterwirft. Nicht Bindung an Recht und Gesetz zählt, sondern die Chance für symbolische Deals. Das lernt man besonders schnell und gründlich unter dem Regime des bayerischen Espenlaubregenten. Unter der Herrschaft Horst Seehofers heißt es, auf jedes Zittern und Zetern, auf jedes Wendemanöver mit geeignetem Material vorbereitet zu sein. Hans-Peter Friedrich weiß, warum er sich gegen die Berufung in das BMI gesträubt hat. Er hatte nicht nur keine Chance. Er hat sie auch falsch genutzt.

Nicht die Bindung an Recht und Gesetz zählt, auch nicht die Fähigkeit der Führung, einen strategischen Begriff ihrer eigenen Aufgabe zu entwickeln. In unserer Mediengesellschaft scheint es vor allem darum zu gehen, Einfluss darauf zu nehmen, welches Bild von der politischen Lage sich durchsetzt. Der NSA-Spähskandal köchelt trotz massiven flächendeckenden Rechtsbruchs in Deutschland auf kleiner Flamme vor sich hin, weil bisher noch keine Details darüber bekannt wurden, ob, und wenn ja, wie deutsche Dienststellen und Beamte infolge des Ringtauschs zwischen den Diensten abgeschöpfte Informationen zum persönlichen Vorteil oder zu Lasten Dritter missbraucht haben. In den USA ist genau das bereits aktenkundig. Besonders bestürzend sind operative Pläne, wie durch Manipulationen in den Social Media die persönliche Integrität von Zielpersonen durch die Dienste kompromittiert werden kann.

Der Zugriff auf elektronische Daten bezeugt am Beispiel Sebastian Edathys den größtmöglichen Schaden, der einer Person aus der Missbrauchsmöglichkeit entstehen kann. Bisher sieht es so aus (bzw. wird der Eindruck erzeugt), als habe man beim BKA die Brisanz des Namens Edathy erst sehr spät erkannt. Dass ein leitender Beamter des BKA auf der gleichen Liste aus Kanada stand und sogleich erkannt wurde, macht die Legende kaum glaubhaft, zumal MdB Edathy nicht nur als Vorsitzender des Innenausschusses, sondern auch durch einen Hausbesuch im BKA der gesamten Führung des Hauses persönlich bekannt war. Was wäre von der Affäre zu halten, wenn bekannt würde, dass die SPD-Führung schon vor dem Bundesinnenminister von dem Anfangsverdacht gegen Sebastian Edathy informiert war? Dann erschiene das Telefonat des Parlamentarischen Geschäftsführers und heutigen Vorsitzenden der SPD-Fraktion mit dem BKA-Präsidenten in einem ganz anderen Licht.

Dabei tut es nichts zur Sache, dass es sich bei Edathy um eine Person des öffentlichen Lebens, einen direkt gewählten Abgeordneten handelte. Fridolin Hasewinkel aus Castrop-Rauxel hätte den Nachteil, dass sich kein Mensch um ihn kümmerte, wenn ihm aus bloßem Verdacht der Boden unter den Füßen weggezogen würde.

Der Dienstweg ist mehr als die Kumpanei zwischen Führung und Untergebenen. Am Beispiel des von Edathy geleiteten NSU-Untersuchungsausschusses haben wir erfahren, in welcher Willkür Akten in Landes- und Bundesbehörden geführt werden und wie willkürlich, zufällig oder vorsätzlich für die Erhellung eines Sachverhalts dienliche Akten geshreddert oder zurückgehalten werden. Es gibt zwar IT-Abteilungen in allen Behörden, aber offenbar nur wenige, die tatsächlich darüber nachdenken, was die Aktenführung von Behörden in der Neulandwelt des Internets bedeutet und erfordert. Ein Indiz für den hier wichtigen Aspekt des Aufbaus und der Struktur unseres Systems gibt die Praxis der Informationsfreiheitsgesetze. Die Rechenschaftspflicht nach dem Gesetz wird so lange und so intensiv wie nur möglich durch Behördenführungen behindert oder unmöglich gemacht. Die politische Führung und die Verwaltungsspitze machen sich unter dem System des Neobiedermeiers einen schlanken Fuß. Willkür kennzeichnet die Routine. Einzelheiten bestimmen das tägliche Geschäft. Der Sturz des einstigen Bundesinnenministers Friedrich spiegelt diesen Sachverhalt. Dass sein Fall möglicherweise den Falschen traf, illustriert darüber hinaus einen Aspekt der parochialen Struktur des politischen Systems, der mit der Besetzung hoher Positionen durch Parteisoldaten diese in systemisch begünstigte Loyalitätskonflikte bringt.

Inputmöglichkeiten

Dem Buchstaben der Gesetze nach leben wir in einer sehr partizipativen Kultur. Keine Planung ohne Einspruch. Auslegungspflichten, Sachverständigenanhörung, konkurrierende Lobbies allerorten. Im System der vermachteten Interessen gibt es allerdings parallel zu den Normen und Routinen des Rechts eine Schattenzone des direkten Zugangs zu Entscheidern aller Ebenen, oft vorbei am Dienstweg, oft ohne Niederschrift bzw. Dokumentation des ausgeübten Einflusses. Die Spitze des Eisbergs markieren ausgeliehene Mitarbeiter aus Unternehmen und Verbänden oder spezialisierte Law Firms, die in den Bundesministerien oder unmittelbar an der Ausarbeitung von Gesetzentwürfen beteiligt sind. Nach Maßgabe vermachteter Interessen sehen die tatsächlichen Inputmöglichkeiten danach aus, als sei Begünstigung im Amt die undokumentierte Norm, die tatsächliche Praxis, als das ungeschriebene Recht des Stärkeren.

Die kürzlich auf so wundersame Weise medial skandalisierte onlinePetition gegen den ZDF-Moderator Markus Lanz illustriert so etwas wie eine Ersatzhandlung. In mehr oder weniger ausgeprägter Mitwisserschaft zu dem, was tatsächlich der Fall ist, ereiferten sich die Kommentatoren über den aus ihrer Sicht illegitimen Mitwirkungsanspruch der Massen da draußen. Der Pöbel, die Trolls, sind sie nicht bloß Furunkel am Arsch des Systems?

Nein, das System, das solche Haltungen hervorbringt, scheint am Arsch.

Die Inputmöglichkeiten sind geprägt durch einen systemischen Bias zu Gunsten mächtiger Interessen. Wo diese Interessen in Konflikt mit politischen Vorhaben geraten, kommt es gelegentlich zu nützlichen Bauernopfern. Der Fall des ADAC belegt nicht etwa die Selbstheilungskräfte eines Systems von Checks & Balances, sondern die Willkür nach Opportunitätskriterien der politischen Macht. Unser Inputsystem ist von der informellen Norm geprägt: Erlaubt ist, was der Macht dienlich scheint.

Outputfähigkeiten

Wirtschaftlich scheinen sie enorm über alle Maßen. Politisch sieht es bescheidener aus. Nehmen wir nur zwei Beispiele aus der jüngeren Politik: die Aussetzung (nicht Abschaffung!) der Wehrpflicht und damit der Umbau der Bundeswehr sowie die sogenannte Energiewende. Der Amtsantritt der neuen Ministerin illustriert einen alten Trick politischer Führung: Mach ein riesiges neues Fass auf und erzwinge dadurch vorauseilenden Gehorsam auf allen Ebenen und Themenfeldern deines Ressorts. In tiefster Ungewissheit, was tatsächlich auf sie zukommt, arbeiten alle Ebenen, vorübergehend, wie an straffer Leine geführt. Dafür hat nach der Gesundheitsreform Ulla Schmidts der Gesundheitsfonds anschauliche Beispiele geliefert. Alle Leistungserbringer haben dagegen gezetert, aber als sie sahen, wie Manna-gefüllt dieser Topf ist, erzeugte die schiere Masse eine bis dahin kaum vorstellbare Compliance der gesundheitspolitischen und -wirtschaftlichen Akteure.

Die Energiewende ist für die deutsche Politik und das große Feld politischer Planung ein gutes Beispiel für einen großen – opportunistisch dem Machterhalt dienenden – Gedanken mitsamt der bei der Umsetzung zutage tretenden Kalamitäten. In ein wild verkrautetes Feld von Eisenspänen unterschiedlicher Reinheit wird ein Magnet gehalten, alles scheint sich plötzlich danach zu richten, bis die schiere Schwerkraft den Magneten unter der Last der angezogenen Späne zu Fall bringt. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, die Aufgabe, die Sigmar Gabriel schultern soll, als so groß zu erachten, dass darunter seine politische Führungsaufgabe in der eigenen Partei Schaden nehmen könnte. Im dreidimensionalen Schachspiel ihres eigenen Machterhalts hat Frau Merkel Herrn Gabriel ins Joch genommen. Bisher sieht es so aus, als beherrsche Gabriel noch beide Baustellen: die Energiereform und ihre operative Umsetzung sowie die eigene Partei. Seine politische Intelligenz weiß zwischen Einzelheiten und Strategie zu unterscheiden.

Selbstwahrnehmung

Wie sieht die Selbstwahrnehmung des politischen Systems aus? Was hören wir auf den (virtuellen) Marktplätzen der Vierten Gewalt über unser politisches System? Zeigt es sich diskursiv und operativ den mutmaßlichen Aufgaben des nächsten Jahrzehnts gewachsen? Hat es sie zutreffend adressiert? Symptomatisch reicht die Analyse der politischen Sprache nicht mehr aus, um diese Fragen sachgerecht zu beantworten. Wir nehmen allenfalls Symptome wahr. Die Kanzlerin sucht ihr Heil in einer Sprache, die alles anspricht und nichts aussagt. Alles Reden, alle Haltungen scheinen dem alleinigen Ziel des Machterhalts untergeordnet, alles, was die Macht gefährden könnte, wird auf Zeit in abgelegene Umlaufbahnen katapultiert (Prüfstande, Kommissionen, Verhandlungen, Dossiers), nur kommt jetzt, scheinbar über Nacht, von einer Seite Unwucht in diese Jonglage, an der auch Frau Merkel Schaden nehmen könnte.

In der Selbstwahrnehmung des Systems ist ihr größter Vorteil die von ihr ausgestrahlte Unaufgeregtheit, Nüchternheit, bis in den verwaschenen uckermärkischen Sound. Erdung aus allen Poren. In einer hyperkomplexen Welt scheint das ein strategischer Vorteil weit über die kommunikative Performanz hinaus zu sein. Selbst ein Schwergewicht wie Gabriel wirkt im Vergleich zu ihr zu nervös, zu sprunghaft, zu unmittelbar auf den Vorteil bedacht, als dass er im Rennen zwischen Igel und Hasen je etwas Anderes als die Rolle des rennenden Hasens übernehmen könnte.

Was erst jetzt genauer in den Blick rückt: Ruhe scheint nur noch die erste Regentenpflicht. Angela Merkel hat sie verkörpert, bis sie zu einer sich selbst genügenden Norm geworden ist. Dass sie auch anders kann, zeigte ihre Entfernung Norbert Röttgens. Die bisherige Entwicklung der Ukraine-Krise scheint Frau Merkel und der von ihr gespielten Rolle zuzuarbeiten, wenngleich die Krise geeignet erscheint, jeden politischen Akteur in höchste Unruhe zu versetzen.

Hetzmeute

Damit kommen wir zurück zu dem Fall Sebastian Edathys. Ein kanadischer Ermittlungsbefund findet auf dem Dienstweg nach Wiesbaden. Über die technischen Details, die Bedenklichkeit der Bilder oder Filme und wie sie rechtlich zu bewerten sind, hat dieses Interview Auskunft gegeben. Die aufregbare Öffentlichkeit macht sich den strafrechtlichen Vorhalt ungeprüft zu eigen. Die politische Führung operiert allein nach politischer Opportunität. Hierbei auf die Idee zu kommen, es sei darum gegangen, Schaden von der Politik abzuwenden, steht in einer Tradition, für die ich einen berüchtigten Satz adaptiere: Die Führung schützt das Recht nach Lust und Laune.

Was ist im Fall Edathys bisher bekannt: Ein Dienstgeheimnis wird verletzt (nur: was ist noch ein „Dienstgeheimnis“, wenn der verschwiegen zu behandelnde Sachverhalt zuvor bereits den Weg bis in die niedersächsischen Dörfer gefunden haben sollte?). Das geschieht am Rand von Koalitionsverhandlungen, also in der Wiege der nächsten Regierung. Den Bruch der rechtsstaatlichen Norm “als vertrauensbildende Maßnahme” misszuverstehen, das wirkt wie ein Akt vorweg genommener Kumpanei. Das Durchstechen von Informationen gleich welcher Herkunft oder Bedeutung ist nicht etwa zufällig, sondern wirkt als Routine. Damit die Politik keinen Schaden erleide (etwa, weil ein zu höheren Posten gehandelter Parteifreund als Minister oder Staatssekretär der Regierung kurz nach Amtsantritt den ersten Skandal bescheren könnte), wird bedenkenlos das Prinzip des Rechtsstaats politischer Opportunität geopfert. Nur: Seit wann erzeugt die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen, gleich gegen wen, einen übergesetzlichen Notstand? Nach wessen Kriterien? In welcher normativen Rückkoppelung an das System der Gewaltenteilung? Aus welcher Idee makellos über jeden Anruch von Skandel erhabener politischer Praxis?

Das betrachte ich als Vollendung unseres politischen Neobiedermeiers. Absolute Macht wird durch absolute Unterwerfung unter ihre Opportunitäten vorauseilend legitimiert, egal, was oder wer darüber auf der Strecke bleibt. Die Willkür, heute durch beliebige Manipulationen bezeug- oder belegbare Kompromate in Verkehr zu bringen (ganz zu schweigen von der Insuffizienz digitaler Beweisführung) betrachte ich unter diesem Blickwinkel als Symptom für einen sich von Normen ablösenden Maßnahmenstaat. Die unzureichende normative Erdung auf Seiten der Bürgergesellschaft trägt das Ihrige dazu bei, dieses System zu seiner Vollendung gelangen zu lassen.

Der Heilige Sebastian kommt in Erinnerung. Er musste zweimal getötet werden, ehe er dadurch zum Heiligen erhoben wurde. Was für ein Desaster! Ich sage ausdrücklich nichts über Sebastian Edathy. Wie könnte ich das? Sein Fall illustriert die Verrottung der politischen Kultur in Deutschland. Das ist die Lage. Wer den Fall Edathy verstehen will, kommt nicht umhin, auch den NSA-Spähskandal anders zu thematisieren. Dabei spielt keine Rolle, was für Bilder Herr Edathy in Kanada gekauft hat und wie unerfreulich oder rechtswidrig ihre Produktion und ihr Vertrieb aussehen.

Es spielt aber eine Rolle, wie die Figur des Verdachts (bald folgt erneut der Verrat!) Hetzmeuten in Bewegung zu setzen hilft. Gemütlichkeit birgt den Schrecken, erst als Schutzidee, dann zu ihrem Schaden.