Der Wahnsinn geht weiter – eine Tragödie wird besichtigt

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Der folgende Essay erschien kürzlich im Jahrbuch Fernsehen 2018. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber dokumentiere ich ihn hier in meinem Blog.

Prolog: Die Welt wartet nicht auf uns

Die ersten Bilder zeigen einen leeren Konferenzsaal. Die Namensschilder sind austauschbar, stehen für die vielleicht schon verloren gegangene Idee von Repräsentation. Wann werden sie ausgetauscht? Durch wen? Das Leitmotiv erklingt, eine Bearbeitung zweier Kompositionen von Johann Sebastian Bach1, ein maestoso triste in Moll, Kontrapunkt zur musikalischen Tradition eines Parteilieds, das noch Seit´an Seit´schreitet, aber nicht mehr zu wissen scheint, in welche Richtung die Reise gehen wird. Das Motiv durchzieht die Dokumentation wie eine Interpretationshilfe, trifft selbst eine melancholische Aussage zu dem Befund, zu dem die Dokumentation gelangt: der Wahnsinn geht weiter.

Das Recht des ersten Satzes erhält Alexander Gauland mit einem O-Ton vom Wahlabend: „Wir werden sie jagen!“ Kein Halali. Weitere O-Töne bezeugen den situativen Orientierungsverlust in den ersten Reihen der politischen Parteien, postheroische Markierungen wie Nahles´“ab morgen kriegen sie in die Fresse“ und Christian Lindners leerer Satz, es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“.

Zur Exposition gehört auch das Eingeständnis der CDU-Vorsitzenden nach dem Wahltag, dass sie den Wahlkampf gut durchdacht habe und nicht erkennen könne, was sie anders machen müsste. Schließlich gelangt – wie eine Zangengeburt – jener Satz des SPD-Vorsitzenden in Erinnerung, der ihn am Ende des Weges um alle Ämter bringen wird, dass er einer Regierung von Angela Merkel nicht angehören werde. „Ganz klar!“ Nichts aber war klar, als dieser Satz so resolut gesagt wurde.

Der Optimismus der Jamaika-Sondierer „Jetzt geht es lo-ho-hos!“ zerstäubt nach 56 Tagen und zeigt, als Ergebnis einer liberalen Intrige, den Unwillen, vielleicht auch die Unfähigkeit des bürgerlichen Lagers, gemeinsam politisch zu gestalten. Eine zweite Chance dafür wird es so bald für die am Scheitern Beteiligten nicht geben. Auf dem Bundespresseball tanzt der Bundespräsident zu „Que sera“, ein politisches Futur aber kommt nicht in Sicht, nur unvollendete Gegenwart.

Die Montage des Films spürt wiederkehrenden Protokollterminen im ewigen Ablauf des Kanzleramts nach. Eine Bläserkapelle schmettert das „Tochter Zion“, die SPD-Führung singt vor Beginn des Sondierungsparteitages bei einem Gottesdienst „Macht hoch die Tür“, schließlich übersteht Frau Merkel die Sternsinger und die Tanzmariechen, bis die Passionszeit die musikalische Regie übernimmt. Der Wahnsinn geht weiter. Tina Hassel beschwört die Angst vor unkontrollierten Sprengungen in der Personalpolitik der Parteien. Optimismus kommt nicht in Sicht.

Eine Tragödie als Format der politischen Dokumentation

Kevin Kühnert, die Nachwuchshoffnung der Sozialdemokratie, sagt in die Kamera, aus Labyrinthen könne man in aller Regel auch herausfinden. Aber die SPD hat keinen Ariadne-Faden. Das Gefühl, in einem Labyrinth zu stecken, in dem ein Ungeheuer sie zu verschlingen droht, trifft eine bedrückende Positionsangabe. Kein Wunder, dass Stephan Lamby, Autor und Regisseur dieses Films, aus diesem Satz zu seinem Titel findet: „Im Labyrinth der Macht“. „Die Furche weiterzuziehen“ bleibt Martin Schulz verwehrt. Robin Alexanders Befund, wir erlebten einen Epochenwandel, erlaubt einen anderen Blick auf das Format dieses Films. Was so unscheinbar zur Rubrik einer politischen Dokumentation zu gehören scheint, folgt tatsächlich der Dramaturgie einer Tragödie. Das antike Vorbild gelangt wie eine Kollision der politischen Realität mit antiken Textmustern in die Erzählung der Koalitionsverhandlungen. Als ehrwürdig galt einst das Schmieden eines Bündnisses. Heute nun aber wirkt aus dem Blickwinkel der Beobachter es fast ehrenrührig, wie am Ende endloser Nächte die neue Regierung gebildet wurde. Zweifel an der Haltbarkeit des Bündnisses schießen schon vor der Unterzeichnung ins Kraut.

Das darf bitte nicht missverstanden werden. Den Autor leitet eine Idee von Politik, die nicht ins Biedermeierliche führt, auch nicht in Straßenschlachten und wüste Töne. Das Kräftemessen und Aushandeln von Kompromissen gehören zum Spiel. Das handelnde Personal aber scheint den ihm zugedachten Rollen kaum mehr gerecht zu werden.

Lambys Dokumentation folgt der Tradition der antiken Tragödie, führt das Publikum an Ort, Zeit und Handlung. Die vielen Einzelinterviews mit den Beteiligten montiert der Regisseur so kontrapunktisch zum Ablauf des Geschehens, dass er einen anderen Blick, ein tieferes Verständnis dieser knapp sechs Monate ermöglicht. So kreuzt er das antike Vorbild mit Brechts Idee des epischen Theaters. Die Heldinnen und Helden treten sekundenweise aus ihren Rollen heraus und geben Auskunft, als suchten sie, klug befragt, selbst besser zu verstehen, was gerade abläuft.

Dramaturgisch profitiert die Dokumentation auch von Friedrich Nietzsches Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Bachs Adagio, der dritte Satz aus der Sonate Nr. 5 f-Moll für Violine und obligates Cembalo BWV 1018, ersetzt im Labyrinth der Geschichte den Ariadnefaden. Das melancholisch langsame Voranschreiten der Violinakkorde nimmt das Publikum quasi an die Hand und stimmt es ein auf das, wovon zu erzählen ist.

In der Hochachtung der Medienkritik vor der unglaublichen Aktualität des Stücks, das buchstäblich erst in der Nacht nach Bekanntgabe des SPD-Mitgliederentscheids zu Ende geschnitten wurde, blieb der Blick auf die kompositorische Struktur unscharf, ging darüber etwas von der Bedeutung verloren, die den Film als Dokument seiner Zeit über sie erhebt und ihn anders auskunftsfähig macht, als seine Kritiker wahrgenommen haben.

Nietzsche redet selbst von einem Labyrinth, „als welches wir den Ursprung der griechischen Tragödie bezeichnen müssen“2. Lamby hat die Spuren zum tieferen Verständnis auf eine Weise gelegt, die das Format politischer tagesaktueller Features transzendiert. Im Titel liefert er den Schlüssel für seine Interpretation.

Die Hauptfigur der Tragödie, die es zu besichtigen gilt, ist die Politik selbst. Ihre Darsteller und Akteure geben über sie, verhalten nur über sich selbst, Auskunft, was sie nurmehr als Werkzeuge der Politik und kaum mehr als souveräne Gestalter kennzeichnet. Ihr Gestaltungsanspruch schrumpft zur Maskerade eines Trauerspiels, das langsam ins verschattete Licht tritt. Auch nach Ende des Films findet das volle Bewusstsein der Tragik noch nicht zu sich selbst, gibt bloß eine Vorahnung davon, dass in der Montage, in den Auskunftspartikeln der interviewten Politiker und Journalisten etwas zum Ausdruck gelangt ist, das Zweifel am verhandelten Ergebnis und seiner Belastbarkeit nährt und so über den historischen Gegenstand und seine Zeit hinausweist.

Der traurige Herausforderer der Kanzlerin scheint neben sich zu stehen und redet über sich und sein Schicksal, als fühle er sich durch den Ablauf der Geschichte überholt und vom Felde gestellt, als sei es neuerdings Königsdisziplin der politischen Praxis, über sich in der dritten Person zu reden. Das galt einst als Grammatik einer höfischen Gesellschaft. Die Tragik des Martin Schulz liegt darin, dass ihm als dem Urheber des einleitenden Kapitels des Koalitionsvertrags3 ein Parteifreund bei der Besetzung des Außenministeriums zuvor kommt, der trotz seiner saarländischen Herkunft bisher bestenfalls als Protokollant des politischen Geschehens in Europa gelten kann.

Frau Merkel als Gegenspielerin braucht nicht selbst aufzutreten, um ihre Rolle der abwesenden Anwesenheit der Macht zu besetzen. Wozu sie sie inne hat, erneut errungen und um Kompromisse gemindert, scheint keine Rolle zu spielen, weil kein Koalitionsvertrag der letzten Perioden je ins Auge gefasst hätte, vor welche Herausforderungen die Politik sich tatsächlich gestellt sieht. Sie ist „all dor“, wie der berüchtigte Igel im Rennen mit den nun sozialdemokratischen Hasen.

Der Heureka-Augenblick für die Interpretation des Films kommt zustande, als Robin Alexander zum ersten Mal über seine Beobachtungen der Sondierungen und Verhandlungen spricht. Seine Mimik oszilliert zwischen Fassungslosigkeit und Entsetzen. Ich habe das Bild auf dem Screen eingefroren, weil es mir so bekannt vorkam. Es erinnert mich an einen Essay des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich über Géricaults Gemälde „Das Floß der Medusa“.4 In der Kaskade von Bildern, in deren Kontext Heinrich dieses Bild interpretiert, bahnt ein Ausschnitt aus Michelangelos Jüngstem Gericht dem tieferen Verständnis von Lambys Dokumentation den Weg: eine riesige schwebende Figur, sie ist gefangen, kommt weder hoch noch herunter. „Sie ist in eine völlig wahnsinnige Hockstellung gebannt; hier unten an hier hängen Trauben von Verdammten, aber die Trauben können sie nicht ziehen; und nach oben stoßen wird sie auch nicht können. Sie schwebt für immer in dieser unnatürlichen Stellung. Sie hat eine Hand vor das Gesicht geschlagen. Aber das Auge, ein unnatürlich aufgerissenes, kreisrundes Auge starrt. (…) es ist eine Figur, die eigentlich allein übrig bleibt in diesem Geschehen, um zu sagen: das Entsetzen erregende ist das, was vor mir passiert, und nicht das, was hinter mir passiert vor der Kulisse des Weltgerichts; es ist der Zeuge, der auf diejenigen starrt, die dort in der Kapelle sitzen oder stehen: also, nicht erst im Jüngsten Gericht die Katastrophe, sondern die reale Katastrophe schon hier vor Augen (…) daß man dieses Ineins von Klage und Jammer und, wenn auch lautlos, wildem Schrei auf eine Formel bringt, die jeder erkennt (auch wenn es langes Training erfordert, einen Mund, der nicht so gebaut ist, in diese Stellung zu bringen).5

Das Bild des fassungslos entsetzten Journalisten Robin Alexander erinnert schließlich auch an eine Konzertaufnahme von BWV 1018, Quelle für das musikalische Leitmotiv des Films, aufgenommen im Mai 2008 in Kloster Polling.6 Klaus Peter Zimmermann zeigt einen Ausdruck tiefsten Jammers, als er die ersten Takte des Adagios spielt, der Lambys Film so melancholisch grundiert. Das langsame Schreiten der Violinakkorde gibt den Takt vor. Das Zustandekommen von Wahrheit, um es pathetisch auszudrücken, kann nicht erzwungen werden, es ist aber als ein Akt der Freiheit zu verstehen, die der Film möglich macht. Lamby integriert durch seine Montage alles, wie ein Chor umsichtiger Traumregisseure: Bilder, Töne, Aussagen, um das in ihnen noch latent schlummernde Verständnis hervorzubringen.

Die Journalisten als Chor der Tragödie

Das ist alles andere als far-fetched. Lamby nimmt die Bilder ernst und macht sie zum Schlüssel für die Interpretation seines Films. Das Arrangement gibt Auskunft über das Scheitern, sodann das Zustandekommen eines politischen Bündnisses, dessen Akteure für ihre Auftritte aus ihrer Rolle treten und zugleich über sie Auskunft geben. Die Journalistinnen und Journalisten übernehmen in Nachfolge der antiken Tragödie die Rolle des Chors. In die politische Gegenwart gebeamt, bieten sie Frames an, um den Aufbau und den Ablauf der Tragödie zu deuten. Keiner von ihnen erhebt den Anspruch, allwissend zu sein, aber sie erfüllen getreulich ihre Funktion, während die politischen Akteurinnen und Akteure scheinbar matter-of-factly zu Wort kommen und offen lassen, welche Rolle auf sie im Vollzug des ausgehandelten Vertrags auf sie wartet. Es passt ins Bild, dass der Karneval zum Höhepunkt (oder showdown) der Vertragsverhandlungen vorbei war und die Passionszeit begonnen hatte.

Säkularisiert stellt sich beim erneuten Sichten des Films die Frage, wie Lamby die Gefühle im politischen Kraftwerk der Koalitionsverhandlungen arrangiert. Gibt es einen Augenblick des Mitleids, der Einsicht in die Tragik, gibt es Augenblicke, in denen der Schrecken auch den Fernsehzuschauer packt? Lamby moduliert solche Augenblicke zurückhaltend. Katarina Barley redet über die Fehler ihres Spitzenkandidaten in einer Weise, als sei sie Belastungs- und Entlastungszeugin zugleich. Das Eingeständnis mildernder Umstände könnte nicht brutaler ausfallen.

Ähnlich ergeht es Martin Schulz nach dem Sondierungsparteitag in einer Aufzugfahrt nach unten, die einen Bilderstrom evoziert, an dem Alexander Kluge, Frank Castorf und Jean-Luc Godard mitgewirkt haben könnten. Schulz´ „“Schatzi, ich bin im Moment im Fahrstuhl. Ich ruf sofort zurück, wenn ich hier raus bin.“ ist ein Augenblick, der ihn als unglücklichen Helden nicht treffender erfassen könnte, ein episch gedehnter Augenblick, in dem Mitleid und Abhärtung dagegen eins werden.

Die Vorgeschichte trägt auch Züge einer Farce. Der Bilderstrom und die Durchstechereien aus den Jamaika-Verhandlungen bezeugen tiefsten Unernst der Beteiligten bis hin zu der Mitteilung des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, lieber nicht als schlecht zu regieren, die er mit einem „Auf Wiedersehen!“ beendet, das keiner der anwesenden Journalisten erwidert. So einen der ihm zugedachten Rolle abtrünnig werdenden Helden will man nicht wiedersehen.

Die Montage des Films versammelt Bilder, die wie aus dem Abseits des Tagesjournalismus eingefangen scheinen. Lamby zeigt ein dialektisches Gespür für Situationen, die unter Zeitlupe ein verzögert zustande kommendes und damit zugleich tieferes Verständnis ermöglichen. Es zeigt die Akteure entgeistert und übermüdet, wie neben der Spur auf dem Weg zum nächsten Mandat. Die Bilder sind nicht zynisch. Sie ermöglichen postheroische Anteilnahme.

Das Auftauchen neuer Akteure wie etwa des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert zeigt offene Neugier auf das Talent mit gemischt unparteiischen Gefühlen dafür, was im Falle seines Erfolgs passiert wäre. Keine Rolle wird diskreditiert. Ihr Zusammenwirken zeigt Bilder des politischen Prozesses, die wie ein Gegengift die Idee politischer Kontrolle dekonstruieren. Das Heldenhafte schrumpft zum bürgerlichen Habitus des durch die Zeitgeschichte scheinbar Überrumpeltwerdens.

Lambys Dokumentation ist kein Thriller. Alles scheint auf offener Bühne zu geschehen. So ermöglicht er eine Spannung, die der alltägliche TV-Politikjournalismus kaum darstellen kann. Die Bilder aus dem Abseits dokumentieren eine freischwebende Aufmerksamkeit für Details, als handelte es sich um eine analytische Kur, die das tradierte Verständnis von Politik entzaubert und zugleich auf neue Beine stellt. Das kluge Hinschauen, der vielstimmige Versuch des Verstehens geben ein Versprechen für eine Renaissance des politischen Journalismus.

Das erfordert nicht nur einen anderen Blick, ein anderes Arrangement, sondern auch eine Offenheit für etwas, das vordergründig unbedeutend zu sein scheint, eine Montage, die dem sozialmedialen Erregungsaffen Zucker vorenthält, sich so anschlussfähig macht für ein Interesse an Politik, das auf Verstehenwollen setzt.

Von „Blindflugverflochtenheit“ und wechselseitig zugefügten Kastrationen schreibt Torsten Körner in der medienkorrespondenz 7und vermisst einen anderen Erzählstandort, obschon er einräumt, wie sehr Lambys Dokumentationen quasi bedingungslos ins Offene streifen,

Katarina Barley, die immer so sympathisch offen zu sein scheint, beschreibt Politiker als „Getriebene des Mediensystem“, als handele es sich in dem Zusammenwirken von Politik und Medien um ein neues Naturgesetz, dem sich keiner entziehen könne, obschon es Akteure gibt, die einen Raum mit einem „So!“ elektrisieren können, als sei das ein ganzer Satz. Barleys Rolle in diesem Film, das war schon in Lambys vorletztem Film über die „Nervöse Republik“8 zu sehen, scheint ambivalenter, als ihr selbst klar geworden zu sein scheint. Sie kommentiert vor laufender Kamera, als redete sie aus dem Off. Dabei sind ihre Aussagen über Fehler des SPD-Spitzenkandidaten so knallhart, dass man sich fragen muss, ob Martin Schulz sich von ihr nicht mehr noch verletzt fühlt als durch seinen Parteifreund Sigmar Gabriel. Barley wirkt wie ein protokollierender compassionate Brutus unserer Zeit.

Horst Seehofer, dem man nun wirklich nicht nachsagen kann, dass er ein ungetrübtes Verhältnis mit Angela Merkel besäße, wirkt im Kontrast zu Katarina „Brutus“ Barley wie ein spät berufener Samariter. Merkels Reaktion auf den Abbruch der Jamaika-Sondierung schildert er als einen kathartischen Augenblick des Bedrohtseins: „Die wollen mich weghaben!“ Schlitzohrig, wie Seehofer auch ist, kostet er das Erzählen dieser Episode aus wie einen episch genossenen langen Abgang, als vollzöge er eine symbolische Tötung durch Mitleid. Auch das ist ein Wahrheitsaugenblick, den Lamby beiläufig ermöglicht.

So entsteht eine situative Erzählung vom politischen Betrieb und seinen Akteuren, die der unseligen Idee von Narrativen und rollenkongruentem Agieren nicht mehr bedingungslos Glauben schenkt, sondern Augenblicke des Auseinanderdriftens, des porös Werdens im Gewebe des politischen Erzählens einfängt. So schnell ist das Ausderrolletreten, das Lambys Film als Eindruck hinterlässt, durch den politischen Betrieb nicht aufzufangen oder in neuer Rollenprosa aufzufangen.

Diese Disziplin beherrschen ohnehin nur wenige, die meisten behalten das für sich, machen sparsamsten Gebrauch davon. Franz Müntefering zeigte das Talent mit seiner berühmten Heuschreckenrede, die er schon mehrmals gehalten hatte, ehe ihre politische Sprengkraft erkannt wurde. Lamby ist ein Jäger, Sammler und Ermöglicher solcher Augenblicke. In ihnen macht er die Mythen des politischen Alltags erzählbar. Als gelernter Musiker versteht er es schließlich, scheinbar ganz nebenbei, auch eine Kontrapunktik hörbar zu machen, die dem Verständnis der gezeigten Bilder und Töne eine andere Tiefe verleiht.

Rückblick aufs das Werk Stephan Lambys

Der Autor hat erstmals im August 2010 in seinem damaligen Blog über einen Film Lambys geschrieben9. Es folgten TV-Kritiken zu Lambys Filmen „Schäuble – Macht und Ohnmacht“10, „Die nervöse Republik“11 und zuletzt „Bimbes – Die schwarzen Kassen des Helmut Kohl“12. Lamby ist mit seiner TV-Produktion Eco Media13 seit 21 Jahren im Geschäft, vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Fernsehpreis 201814 und dem Bayerischen Fernsehpreis 2018 für drei Dokumentationen15. Seine Firma ist in Hamburg ansässig, daher ist der NDR, neben dem SWR, dem rbb und arte quasi Lambys Haussender.

Stephan Lamby, 1959 in Bonn geboren, hat in Marburg und Hamburg Germanistik und Anglistik studiert. Berufliche Erfahrungen sammelte er auch als Musiker in New York und in Brasilien. Er arbeitete für ein freies Radioprogramm in Hamburg und leitete später das Fernsehmagazin der Zeit.

Er kennt das Handwerk und verfügt über ein weitgespanntes Netzwerk.

Ein Aspekt seiner Arbeit verdient es, hervorgehoben zu werden. Er hat ein Gespür für die longue durée seiner Themen, daher auch eine Geduld, die dem schnellen tagesaktuellen Nachrichtendurchsatz fremd ist. Das ermöglichte ihm, für den Film „Bimbes“ auf eigene Interview-Aufnahmen mit Helmut Kohl zurückzugreifen, die schon seit über 15 Jahren im Archiv gelegen hatten.

Die Arbeitsweise nutzt auch der von Lamby ins Leben gerufenen Video-Plattform dbate16. Ähnlich wie Alexander Kluge sein Werk präsentiert, beliefert Lamby dbate mit Interviews und Hintergrundinformationen zu tagesaktuellen Themen. Demnächst wird er auf ein Interview zurückkommen, das er 2003 mit dem US-Präsidenten George H. Bush geführt hat. Die Rechte des bei dbate gezeigten Materials liegen bei ihm. Soweit es sich um Ausschnitte aus ARD- oder arte-Produktionen handelt, kann er mit Genehmigung der Sender auf das Material zurückgreifen.

Das spricht für vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen. Bei der Produktion der Dokumentation „Im Labyrinth der Macht“ zeigte sich ihre Belastbarkeit. Die letzten Aufnahmen entstanden am Tag vor der Ausstrahlung. Fünf Tage vorher gab es eine Vorabnahme des so weit geschnittenen Materials und am Abend des 4. März kam einer der zuständigen Redakteure ins Schnittstudio, am Montagmorgen des 5. März 2018 ging der Film in die technische Abnahme.

So sehen Glücksfälle aus, die mit Geduld und Weitsicht zustande kommen.

1 Constellation 999 (after BWV 999 & BWV 1018) Von Tamar Halperin, Etienne Abelin, Tomek Kolczynski & Johann Sebastian Bach

2Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Band 1 München 1980 Seite 32

32018-03-14-koalitionsvertrag.pdf;jsessionid=50E5203E8918F1300D1F94C71DB8F4BD

4Klaus Heinrich, Das Floß der Medusa. In: Faszination des Mythos. Herausgegeben von Renate Schlesier. Basel und Frankfurt 1985, S. 335-398

5Klaus Heinriech aaO S. 366f

8Hans Hütt, TV-Film „Die nervöse Republik. Hier kommt etwas ins Rutschen. FAZ 19.4.2017 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/tv-kritik/ard-zeigt-doku-film-nervoese-republik-von-stephan-lamby-14975479.html

9Hans Hütt, Da kommt ein Sturm … you better run, boy, run Handelsblatt Rhetorik-Blog 6. August 2010 http://blog.handelsblatt.com/rhetorik-blog/tag/stephan-lamby

10Hans Hütt, Schäubles Rennen gegen sich selbst. Zeit Online 24. August 2015 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-08/wolfgang-schaeuble-film/komplettansicht